Die britische Regierung hat posthum Tausende Männer begnadigt, die für ihre vormals strafbare Homosexualität verurteilt wurden. Grundlage des großzügigen Gnadenakts ist das sogenannte „Turing-Gesetz“. Der britische Mathematiker Alan Turing hatte während des Zweiten Weltkriegs entscheidenden Anteil an der Entschlüsselung der deutschen Funksprüche und rettete damit der gesamten, vergleichsweise freien Welt ihren verdammten Arsch. Die Betonung liegt hier auf „vergleichsweise“ – davon konnte der schwule Turing selbst ein Lied mit siebzehn bitteren Strophen singen, deren letzte von seinem Selbstmord im Jahre 1954 handelte. Zuvor hatte man ihn zu einer chemischen Kastration verdonnert, die eine schwere Depression auslöste. Leistung schützt vor Strafe nicht.
2011 war seine Begnadigung noch abgelehnt worden. „Lasst die Schwuchtel für ihr ekelhaftes Laster ruhig noch ein bisschen brummen“, war die dahinter stehende juristische Erwägung. Und bevor nun jemand empört aufschreit, sollte er sich den kulturellen Background der Weigerung vor Augen führen. Denn man schrieb gerade mal das 21. Jahrhundert in einer führenden westeuropäischen Industrienation. Die Zeit war schlicht nicht reif für solche Eskapismen. Der Krieg war kaum siebzig Jahre vorbei, das Beamen steckte noch immer in den Kinderschuhen und nur wenig früher hatten in Deutschland durchgeknallte Utopisten den Hippie-Einfall, Vergewaltigung in der Ehe zu bestrafen, eiskalt in die Tat umgesetzt – ein warnendes Beispiel für Politiker auf der ganzen Welt, sich niemals vorschnell über das Volksempfinden hinwegzusetzen. Aber die Jahrtausendwende galt ohnehin als Blütezeit bizarrster gesellschaftlicher Experimente.
Queen Elizabeth, die als Mutter eines schwulen Sohnes der Materie naturgemäß ein wenig aufgeschlossener gegenüberstand, beendete 2013 mit einem „Royal Pardon“ endlich den unwürdigen Eiertanz um Turings Würde.
In Deutschland wurden übrigens nur einschlägige Urteile aus der NS-Zeit aufgehoben. Über die Rehabilitierung späterer Opfer des bereits 1994 (!) aus einer postmodernen Grille heraus gestrichenen Paragraphen 175, der sexuelle Handlungen unter erwachsenen Männern unter Strafe stellte, denkt man heute noch gründlich nach. Vielleicht haben diese warmen Brüder ja doch was ausgefressen? Sonst hätte es das Gesetz doch sicher nicht gegeben. Und so ein fataler Schnellschuss wie das Vergewaltigungsverbot (s.o.) darf auf deutschem Boden nicht nochmal passieren.
Um uns hierzulande ein besseres Urteil bilden zu können, begeben wir uns nach England und sehen uns die Reaktionen der direkt Betroffenen dort an. Der vor dreißig Jahren verstorbene Samuel Paisley (114) aus Sunderland rotiert jedenfalls vor Freude wie ein Brummkreisel im geöffneten Sarg, als ihm ein Filmteam der BBC die Begnadigungsurkunde überreicht. Bei dem lauten Geklapper der Knochen können wir seine Worte kaum verstehen, nur irgendwas mit „danke“ und „dunkel“ und „hätte ich jetzt echt nicht mehr gedacht“.
Erst mit der Begnadigung finden die Seelen der Verurteilten endgültig ihre Ruhe. Bislang vermochte allenfalls ein silberner Pflock, zweimal täglich etwa eine Stunde vor den Mahlzeiten ins Herz getrieben, der ewigen Unrast Linderung zu verschaffen. Und wer keine Angehörigen besaß, die dafür Sorge trugen, hatte eben Pech, denn Vorbestraften verweigerte die Krankenkasse die Übernahme jeder postpalliativen Therapie.
Der Rückgang der Zahlen schwuler Zombies klingt nicht nur für Nachtschwärmer durchaus nach einer positiven Entwicklung. Von der Kühnheit, dem Tempo und der Humanität ihrer eigenen Entscheidung wie berauscht, arbeiten Legislative und Judikative bereits Hand in Hand am nächsten Coup. Und zwar in ganz Europa. Könnte man nicht auch die zahllosen verurteilten, ermordeten und verbrannten Ketzer und Hexen mit nachträglichen Freisprüchen bedenken? Wie viele Wählerstimmen ließen sich damit allein im Kundenkreis von „Kräuter-Kühne“ mobilisieren! Die Akten jugendlicher Intensivtäter müssen solange warten. Das große Ganze geht nun mal vor.
Im Fall der Hexen zögert der Gesetzgeber. Allzu vage geben sich die Quellen: Hat denn nun die Schadenzauberin Mathilde von Bissingen im Jahre 1553 dem Dorfkrämer tatsächlich einen Schweineschwanz ans Hinterteil gehext oder nicht? Bis zur eindeutigen Klärung ist die Aussicht auf einen Freispruch ähnlich einzuschätzen wie die vieler NS-Zwangsarbeiter auf Entschädigung.
Doch Ketzer haben eine reale Chance, zumindest in eher protestantisch oder atheistisch geprägten Regionen. Ein gutes Beispiel ist das des Seyfried Barnabas Potolke, des berühmten Wiederkäuers von Hoppenstedt, der von der Inquisition wie eine Currywurst in kleine Scheiben geschnitten, mit der Asche eines tollwütigen Wolfs bestreut und dann dem tobenden Mob mit Scheiße übergossen auf einem Pappteller präsentiert wurde. Anlässlich seines sechshundertsten Todestages im Jahre 2016 sandte kein Geringerer als Justizminister Heiko Maas persönlich den Nachfahren des Fehlgläubigen eine Weihnachtskarte mit dem bündigen Text: „Sorry!“ Ein Anfang ist gemacht; so kann Versöhnung aussehen und die Justiz sich ihrer historischen Verantwortung stellen.
Mittlerweile hoffen sogar diejenigen Verstorbenen, deren Kutschen, Draisinen oder Automobile wegen ambulanter Parkverbote aufgrund von Baumarbeiten abgeschleppt wurden, dass die entsprechenden Vermerke von ihren Grabsteinen getilgt werden. Doch bis zu quasi schrankenloser Toleranz ist es noch ein weiter Weg.