Deutsche Tugend, deutsche Jugend

Wir brauchen wieder viel mehr Leitbilder im Fußballsport.

Eine ganze Nation wartet auf den neuen Bundestrainer wie auf den Messias. Denn vor allem in Deutschland wird der Fußball permanent mit soziokultureller Bedeutung überfrachtet. Ob Politiker, Künstler oder Philosophen: Sie alle deuten in das Gekicke völlig unangebrachte Metaphern für praktisch alles hinein, vom Bruttosozialprodukt bis hin zum Sinn des Lebens. Das ist ein wenig so, als würde man Brokkoli anbeten.

Den Grundstein zu dieser Götzenbildung legte das sogenannte „Wunder von Bern“, das nicht zufällig auch das erfolglose Ende der Entnazifizierung bedeutete: Elf bis zur Halskrause gedopte Kriegs- und Nachkriegsveteranen lehrten die Welt das Fürchten und holten 1954 nach, was man auf dem Schlachtfeld 1945 noch verpasst hatte: den Weltmeistertitel. Seitdem ertönt, wenn dieses Deutschland nicht ständig gewinnt, im ganzen Land narzisstisch gekränktes Greinen wie von Vierjährigen, die den Sinn eines Spiels noch nicht erfasst haben: Nur einer kann gewinnen; Dabeisein ist alles; Hauptsache, an der frischen Luft.

Nun hat man mal ein paar Spiele nicht gewonnen, und sofort fantasiert man auch hier ein angebliches Spiegelbild der gesellschaftlichen Zustände herbei: alles verrottet, nur Versager, zu viele Ausländer. Kein Drill, keine Zucht, kein Siegeswille. Und nun droht dem Lieblingssport der Deutschen auch noch Ungemach von unten: Kinder in den Altersklassen U7 und U9 sollen mit weniger ergebnisorientierten Übungsformen spielerischer an den Sport herangeführt werden.

Das ruft natürlich die alte Funktionärs- und Kommentatorenriege auf den Plan, denn die bangt nun um die viel beschworenen „Deutschen Tugenden“, die im Fußball wie auch in sämtlichen anderen Bereichen (Automobilindustrie, Geschlechtsverkehr, Krieg) schon seit jeher für eine ins Groteske übersteigerte Wettbewerbsfähigkeit stehen. Eine deutsche Elf hat entsprechend aus zehn muskelbepackten Mordgesellen mit der Lieblingshimmelsrichtung „Geradeaus“ zu bestehen, deren Begabungsschwerpunkte eher vegetativ, denn über spezielle Hirnareale gesteuert werden; dazu 1 Langhaariger, der im Ferrari zum Training kommt, und nie den Ball abgibt. Der Sieg ist das Ziel.

Jahrhundertelang spielte Deutschland ein bewährtes System mit Libero, Vorstopper und Reichskanzler. Hans-Peter Breughel der Stärkere, die Förster-Brüder, Fritze Haarmann. Doch in Zukunft werden nur noch verspielte Kasper im ziellosen Ringelreih über den Platz tänzeln, anstatt den Ball aus vierzig Metern fromm ins Tor zu hämmern. Ist es nicht jetzt schon fast so?

Hans-Joachim „Aki“ Watzke, Geschäftsführer eines Ballspielvereins aus Dortmund, steht mit seiner vehementen Kritik an den neuen Erziehungsmethoden beispielhaft für die Rotte der Fußballtraditionalisten: „Aus dem Schmerz der Niederlage erwächst die Kraft für den nächsten Sieg.“ Keine Noten in der Schule, keine Sechzigstundenwoche in der Arbeit, keine Tabellen mehr im Fußball und überall spinnen die Weiber – kein Gott, kein Staat, kein Kopfballduell mit doppeltem Augenhöhlenbruch: Armes Deutschland – quo vadis?

Wohin man auch blickt, herrscht nur noch Windelweichspülmentalität. Das erschreckende Resultat sieht man ja bereits beim Reiten und beim Rudern. Wo früher sämtliche Medaillen automatisch an Deutschland gingen, stehen nun Tschetschenen und Apachen auf dem Siegertreppchen, Leute mit Mumm halt.

Ginge es nach Watzke, Baumgart, Hamann und Co., muss der deutsche Junge im Fußballtraining für den Krieg, das deutsche Mädel für die Geburt fitgemacht werden. Und wie könnte das besser gehen als durch den Punktspielbetrieb schon in der F-Jugend des SSC Napola, inklusive taktischer Videoschulung, Sieg und Niederlage, Sing und Sang, Hopp und Topp.

Das Initiationsritual der eingesprungenen Blutgrätsche, die aus dem Jungen den Mann, dem Mädchen die Frau und beiden die Sportinvaliden macht, bleibt für die Gilde der Gralshüter alternativlos. Schweiß statt Freude. Wer mit drei Jahren noch keine Dreierkette beherrscht, wird auch mit dreißig Jahren noch Defizite in der sittlichen Reife aufweisen. Das werden auch die lieben Kleinen irgendwann einsehen, und den vernünftig Gebliebenen dankbar sein, die sie erst mal zwanzig Runden um den Platz laufen lassen. Dabei stört ein Ball nur.

Watzke selbst soll ja auf einer mehrtägigen Wanderung durch Transsylvanien einem angreifenden Braunbären mit einer simplen Abwehraktion sämtliche Zähne ausgetreten haben, ohne dabei auch nur eine Sekunde lang die Ordnung der Viererkette zu vernachlässigen. Wir brauchen wieder viel mehr Leitbilder im Fußballsport.

Fast noch schlimmer als die Insider, ist der von ihnen aufgewiegelte Laienmob. Niederlagen nimmt er persönlich krumm; zu viel Leichtigkeit im Fuß sowie Pigmente in der Haut sind Spielertypen, die den Verfechtern der reinen groben Lehre suspekt sind. Schon ein Trainer mit Brille ist verdächtig. Ebenso ein Spieler mit bunten Fußballschuhen, ein leiser Funktionär, ein nüchterner Zuschauer, ein linker Fan. Fußball soll nicht schön aussehen, sondern wehtun. Deutschland soll gewinnen.

So ixt ein „Steffienchen“ auf der Pöbelplattform „X“: „1:4 Blamage gegen Japan. Alles, einfach alles, wofür unser Land mal stand, Industrie, Fußball, Heimatliebe, Innovation, ‚Made in Germany‘, usw. vernichtet. Wir sind zu einer absoluten Lachnummer verkommen.“ Sechstausend andere Leuchten liken diesen völkischen Alarmismus. Eigentlich denke ich die meiste Zeit über nur noch abwechselnd diese beiden Wörter: „Alkohol“ und „Auswandern“.

In England ist freiere Entfaltung im Jugendbereich übrigens längst üblich, deshalb sind die heute auch besser. Leistung, Sieg und Niederlage spielen dabei durchaus noch eine Rolle, eben nur auf andere Weise. Doch Fakten sind für die die alten Funktionärsschlachtrösser im Rahmen eines Diskurses nur das, was ihnen „Schönspielerei“ auf dem Platz bedeutet: „Brotlose Kunst“, wie der Purist alles nennt, was er nicht kennt und nicht versteht.

Pfad der Gefahr

Ich sehne mich nach Kopenhagen, wo das Fahrrad als ernstzunehmendes Verkehrsmittel gilt.

Wackel, gurk, schleich. Auf einem dieser Radwege, die die Leuchten von der Berliner CDU noch nicht rausgerissen und durch Autoparkplätze ersetzt haben, eiert vor mir so eine junge Alte in erratischen Schlangenlinien dem Sonnenuntergang entgegen. Sie trägt Kopfhörer und lächelt selig. Von den Unbillen des Straßenverkehrs bekommt sie nichts mit, obwohl sie streng genommen daran teilnimmt. Doch noch strenger genommen nimmt sie auf die gleiche Art teil wie ein Verstorbener an seiner eigenen Beerdigung: im Mittelpunkt, und doch nicht wirklich anwesend.

Klingeln hilft jedenfalls nichts, zu schreien, „hallo“, „huhu“, oder „kann ich bitte mal vorbei“, nacheinander auf deutsch, englisch, spanisch und französisch, wäre mir hingegen zu blöd, weil doppelt uncool in diesem eh schon etwas onkelhaften Rant. Ich will doch einfach nur vorbei, auf meinem Weg von A nach B, und ich sehne mich nach Kopenhagen, wo das Fahrrad als ernstzunehmendes Verkehrsmittel gilt, und weder als verhasster Störfaktor für Kraftfahrer, noch als eine Art analoge Meditation & Fitness-App für verstrahlte Generation Z-Dudes.

Einfach nur vorbei geht aber nicht. Zu gefährlich. Ein befreundeter Unterhaltungskünstler brach sich jüngst das Schlüsselbein bei dem schlichten Versuch, neben seiner Freundin herzufahren. Oder sie neben ihm? Ich weiß es nicht mehr, egal, und die beiden trugen noch nicht mal Kopfhörer – daran sieht man wieder, dass das Fahrradfahren auch so schon schwer genug ist.

Dass die das Alle jetzt so machen, mit den Kopfhörern, ist für mich kein rechter Trost. Denn nur davon, dass alle etwas machen, wird es ja nicht richtiger, oft sogar im Gegenteil: So wählen alle ja jetzt rechts, weil man wegen der kriminellen Clans nicht mehr ins Freibad kann. Am schlimmsten scheint das auf dem platten Land zu sein; die sollen da den Kindern auf der Liegewiese das Eis wegnehmen, und behaupten, es wäre ihres. Dazu kommt permanent noch irgendeine Scheiße mit den Grünen.

Für ähnlich falsch also halte ich die aktive Beteiligung am Straßenverkehr mit hermetisch abgeschotteten Sinnen. Manchmal denke ich, da fehlen jetzt bloß noch Scheuklappen, Knebel, Nasenklemme und Stahlhelm, und fertig ist der personifizierte, fahrende Bunker. Rücksichtland ist abgebrannt.

Du, die junge Alte, sagst jetzt wahrscheinlich, dass das aber nicht für dich gilt, weil schließlich gar nichts passiert ist. Du chillst hier doch nur friedlich auf deiner Hollandgurke, mit deinem Podcast, deiner Musik, oder deinem Telefonat – und hör jetzt, „hören Sie“, mal auf, mich mit deinem, „Ihrem“, cholerischen Geschreibsel zu belästigen, alles klar, Großväterchen? Auch sei es überaus wünschenswert, ich verpfiffe mich nun, nur so als kleiner feindschaftlicher Tipp.

Aber das ist es ja gerade: Du merkst es einfach nicht. Niemals merkst du irgendetwas, und schwebst dabei ungestört durch deine eigene Welt, der einsame Komet Ich auf seiner Umlaufbahn. Selbstverständlich sollen die anderen darauf achten, dass dir und ihnen nichts passiert. Das ist exakt das Mindset, dass dich zumindest innerhalb des Mikrokosmos Radweg zur kongenialen Ergänzung des 55jährigen Lord Helmchen kürt, der mit verkniffener Fresse heranrast und unter lautem Geschrei alles niederbügelt, was sich hinter dir staut. Ihr seid wie Skylla und Charybdis, Putin und Lukaschenko, Regen und Traufe. Und chillen kannst du im Wellness-Hotel!

Als ich es endlich vorbei geschafft habe, sage ich natürlich gar nichts: kein Bock auf triple uncool. Außerdem sind die immer so frech, und dann müsste ich bestimmt wieder weinen.

In Teufels Küche

Käse oder Leber?

Beim Friseur komme ich mal wieder nicht um das dort so typische Gespräch zwischen Frisierendem und Frisiertem herum. Ich blocke das zwar gerne so leicht aspergermäßig bis aufs Nötigste ab, aber theoretisch ist mir schon klar, dass Smalltalk dieser Art eine Errungenschaft der Zivilisation ist, und weitaus eleganter die Steinaxt ersetzt, die man einander früher bei jeder Begegnung ansatzlos über die Rübe zog. Besonders wichtig ist ein solches Appeasement bei Berufen, die aus gutem Grund den verstärkten Einsatz vertrauensbildender Maßnahmen erfordern. Das gilt auch für Friseure, die ja immerhin mit scharfem Gerät Arbeiten in Körpernähe ausführen. Hier kann ein freundlich belangloses Gespräch wahre Wunder der Friedensarbeit bewirken.

Ob ich jetzt im Sommer wegführe, möchte der Friseur wissen. Das ist zurzeit wohl das Standardthema der Saison. Jein, nicht so richtig, sage ich, bloß zehn Tage nach Bayern: Freunde, Verwandte, Eltern. Er fragt dann, ob wir uns vor Ort etwas ansehen, oder eher was essen würden; Hayato ist Japaner, und wirkt immer sehr an den Eigenheiten unseres skurrilen kleinen Landes interessiert, ob es die in seinen Augen sicher bizarre Unhöflichkeit ist, die Alltagstechnologie auf dem Stand wie im Japan des achtzehnten Jahrhunderts, oder eben die regionalen „Spezialitäten“.

Nee, meine ich, ich gucke mir nichts an, ich bin ja da aufgewachsen und habe alles schon gesehen, einmal reicht. Doch jedes Mal wenn ich dort sei, äße ich als erstes eine Leberkässemmel. Und nun wird es kompliziert. Kein Leberkäse in Japan. Aus Leber?, fragt er, Käse? Käse oder Leber? Nein, sage ich, der Name täuscht, weder Käse noch Leber. Ein falscher Freund. Genaugenommen gar kein Freund, sondern ein Feind der Blutwerte und des guten Geschmacks, und aus keinem bestimmten Fleisch, eher aus allem Möglichen, Fleischabfälle halt, wie in Wurst.

Mir fällt auf, dass ich gerade nicht die allerbeste Werbung für die Queen Mum of Junk Food mache. Und, was für ein Dinosaurier ich eigentlich bin, da ich in einer Zeit, da viele versuchen, gar kein, weniger oder zumindest besseres Fleisch zu essen, mir dieses offensichtlich hochgradig suchterzeugende Nitrat-Würze-Fettgemisch reinsauge wie so ein sperrendes Aasgeierküken.

Ich wisse auf einmal gar nicht mehr genau, warum ich das überhaupt äße, und wie ich das beschreiben solle, sage ich bedrückt. Jedenfalls werde die breiige Masse aus organischem Sondermüll, bis zum Anschlag mit Salzen, Gewürzen und Suchtstoffen versetzt, in einer Art Kastenform gebacken. Hinterher ist sie außen dunkelbraun und kross, und innen weich und rosa. Das ist wie so’n Laib Brot, und da schneidet man dann auch so Scheiben ab. Unverschämt gut, sage ich, also für den, der’s mag, also für den, dem alles egal ist. Ich steh ja total drauf. Leberkäse.

Das ist dann eher so ne Art Pastete?, rätselt der Friseur.

Ja, in der Form ähnlich, aber superprimitiv. Wie eine sehr schlechte Pastete für Leute, die froh sind, wenn sie wenigstens so eine „Pastete“ essen können, anstatt gar keine. Man könnte Leberkäse auch aus Kobe-Rind zubereiten, versuche ich nunmehr in ihm womöglich vertrautere Parameter umzuswitchen, doch das verstieße gegen das Deutsche Unreinheitsgebot für Fleisch, dem wir so sagenhafte Schweinereien verdanken wie Leberwurst, Sülze, Würzfleisch und nicht zuletzt Döner. Der ist übrigens der beste Beweis dafür, wie man allein durch ein wenig Germanisierung sogar eine exzellente Küche wie die türkische easy in den Dreck aus Knoblauchkräuterscharfsalatkomplett ziehen kann.

Und damit bin ich schon beim zweiten Hinderungsgrund; kulturelle Aneignung. Ich finde zwar, dass vor allem bei Musik und Essen ein allzu dogmatischer Ansatz da oft nicht hinhaut, aber das behalte ich lieber für mich, kicher. Schließlich bin ich viel zu privilegiert, um eine Meinung zu äußern, die auch noch meine ist.

„Ich glaube, ich würde es nicht machen“, sage ich am Ende zu Hayato. „Das passt auch nicht. Wurstsalat vielleicht, aber kein Leberkäse. Dafür hat man das Rind nicht sein Leben lang mit Augustiner Edelstoff getränkt und anschließend in der Hängematte zu Tode gestreichelt.“

Aggressive Larmoyanz

Es ist genau diese Servicementalität, die eine permanente Unwucht in unser Gesellschaftsgefüge hineinträgt.

„Komm doch her, doh!“

Vor meinem Haus ertönt Geschrei, und ich gehe auf den Balkon, um mir das Straßentheater reinzuziehen: Unten blockiert ein schräg stehendes Auto die gesamte Fahrbahn, so dass sich die entgegenkommenden Radfahrer mühsam vorbei schlängeln müssen. „Komm doch her!“, schreit der Fahrer des Autos einem von ihnen hinterher, dem das bereits gelungen ist, und den er vermutlich daher gern verhauen würde.

Bestimmt hat der Radmensch auch was Freches gesagt, weil ihm das Auto auf der falschen Straßenseite entgegenkam. Das alleine wäre schon verkehrswidrig, und dazu ist das hier eine offizielle Fahrradstraße, aber das schnallen die Leute im Leben nicht mehr – schließlich existiert die Regel erst seit 1997. So schnell kannst du als Autofahrer gar nicht reagieren.

Trotzdem ist dem Radler wohl eine unentspannte Flatulenz rausgerutscht, wie, „Könnten Sie mich eventuell bitte nicht töten?“ Das ist so unfair, denn Autofahrer haben es im Verkehr ohnehin schwer genug. Der Radfahrer hätte seine passiv aggressive Larmoyanz ruhig mal stecken lassen können. Das muss wirklich nicht sein; man kann auch einfach mal schweigen. Denn es ist nun mal viel schwieriger, vier Räder zu koordinieren als nur zwei. Ein irrer Stress. Deshalb sind Kraftfahrer oft wütend, verwirrt und traurig.

Und eben deshalb brüllt dieser jetzt in seinem gerechten Zorn: „Komm doch her! Komm doch her, doh!“ Fünfmal schreit er, aber der Radfahrer hält noch nicht mal an. Er hat es sichtlich eilig und ist spätestens bei der dritten Aufforderung sowieso schon zu weit weg, um sie zu hören, geschweige denn ihr nachzukommen. Zunehmend verzagter klingt der verhinderte Schläger, er sieht seine Felle offenbar davonschwimmen. Man hört, dass er nicht mehr so recht an die Erfüllung seines Wunsches glaubt, vielleicht auch nie ernsthaft dran geglaubt hat.

Allerdings unterläuft ihm hier ein entscheidender Denkfehler, wie ihn überhaupt erstaunlich viele Menschen begehen, die jemanden verkloppen wollen. Ihm liegt ein frappanter Bruch in der Logik zugrunde, der mir schon so oft aufgefallen ist: Wenn einer einen verprügeln will, warum schreit er dann fünfmal, „komm doch her, doh“, anstatt einmal hinzugehen? Das wäre doch viel leichter. Er könnte sich das für die Anwohner lästige Geschrei sparen, und zugleich sein Vorhaben unbürokratisch umsetzen: hin, zack, und auf die Schnauze, ganz easy.

Außerdem wäre das nur angemessen, weil er ja den Radfahrer verprügeln will, und nicht der ihn. Warum sollte der sich folglich die Mühe machen, sich dem Aggressor wie ein Lachshäppchen auf dem Silbertablett zu präsentieren? Zum einen gibt es für ihn keinerlei moralische Verpflichtung, sich als Prügelknabe zur Verfügung zu stellen, und zum anderen: Was hätte er denn davon? Vermutlich gar nichts, es wäre im Gegenteil sogar denkbar, dass die – nennen wir das Kind getrost beim Namen – Gewalttat bei ihm im Nachhall ungute Gefühle hinterließe. Da möchte man sich natürlich nicht auch noch um die erforderliche Logistik kümmern.

Aus Sicht eines Autofahrers etwas anderes zu erwarten, wäre nicht nur bequem, sondern geradezu anmaßend. Es ist genau diese Servicementalität, die eine permanente Unwucht in unser Gesellschaftsgefüge hineinträgt. Wer sich am Arsch lecken lassen will, zieht sich doch auch ohne lange Diskussionen eigenständig die Hose herunter. Das ist schlicht Standard.

Nein, unser schlagwütiger Freund sollte schon selbst für sein Ansinnen einstehen, und alles zu dessen Verwirklichung Notwendige im Eigenengagement in die Wege leiten. Das ist nur recht und billig.

Weder Fisch noch Fleisch

Außerdem habe ich Bock auf Hühnchen, obwohl ich auch kurz über Rind nachgedacht habe.

Meine Nichte ist in der Stadt. Wir verabreden uns zu dritt, damit ich auch mal ihren Freund kennenlerne. Den Link fürs vietnamesische Lokal habe ich per WhatsApp geschickt. Seht her, soll das heißen, ich kann das schon. Ich bin The Digital Uncle, ein rüstiger Best Ager auf der Höhe der Zeit, ein flexibles Bindeglied zwischen Vorzeit und Moderne.

Sie leben beide vegan und arbeiten für verschiedene Geflüchtetenprojekte. Für mich ist das super interessant, weil ich sonst naturgemäß nur alte Asis kenne. In die ungewohnte Situation muss ich mich allerdings erst reinfuchsen, natürlich mit Augenmaß. Also ordere ich ein Gericht mit Huhn, denn man kann es auch übertreiben; eine Bestellung mit Tofu oder Seitan wäre zu unrealistisch. Sie würden mich durchschauen, und für meinen verlogenen Opportunismus verachten, und zwar völlig zu recht. Das würde ich an ihrer Stelle ebenfalls tun. Außerdem habe ich Bock auf Hühnchen, obwohl ich auch kurz über Rind nachgedacht habe.

Aber selbstverständlich will ich bei ihnen einen guten Eindruck machen. Das fällt mir bestimmt nicht schwer. Ich tue ja immer sehr viel Gutes, ich kann das nur nicht so ausdrücken. Und so rede ich, wie mir der graue Schnabel gewachsen ist, über „Flüchtlingsströme“, doch gleich darauf erinnere ich mich vage, dass man das zurzeit wohl eher nicht so sagt. Und sogar die Gründe bekomme ich noch halbwegs zusammen. Die oft verniedlichende Nachsilbe „-ling“ mache die Betroffenen klein und zu Opfern: So ist der Schmetterling ein Tier, das sich nicht selber helfen kann. Und „Ströme“ gilt, ähnlich wie der Begriff „Krise“, glaube ich – bitte kreuzigt oder verbessert mich anderweitig, falls ich das falsch wiedergebe –, deshalb als inkorrekt, weil es die flüchtenden Menschen verdinglicht, und von den Ursachen ablenkt, indem es eine Unvermeidlichkeit wie bei einer Plage oder Naturkatastrophe vortäuscht. Was dann wiederum negative Reaktionen in den Zielländern legitimiert.

Einiges daran kann ich theoretisch nachvollziehen, auch wenn ich zuweilen denke, man könnte ja statt der aufwändigen Wortakrobatik auch Geld spenden oder anderweitig helfen. Aber gut, ich hab sowieso keine Ahnung, wahrscheinlich wäre das auch wieder nur so ein billiger Ablasshandel derer, die sich nicht um sprachliche Sensibilität bemühen möchten. Und die Sprache bestimmt nun mal das Denken, das Denken das Handeln, das Handeln das Sein, und das Sein einen Job an der Uni. Früher mussten die Kinder sprechen lernen, heute sind es die Alten.

Unbedacht frage ich jetzt den jungen Mann, ob seine weiße Puscheljacke aus Schafsfell sei, weil ich offenbar immer noch genauso wenig schnalle, was „vegan“ überhaupt bedeutet, wie so ein fränkischer Landgastwirt, der seine Kartoffelsuppe als vegan anpreist, weil da „kein Fleisch“ drin ist, sondern nur Speck und allenfalls ein paar Wurststücke. Nicht Bildung oder Herkunft scheint der Hauptfaktor für diese Form von Ignoranz zu sein, sondern das Alter.

Ich bin quasi der notorische Nazi-Onkel, wie er in Feuilleton-Artikeln über klassische Familienfestkonstellationen gern als Pappkamerad dient, an dem sich die Jugend in Ambiguitätstoleranz oder konstruktiver Streitkultur üben kann – die Feier soll ja auch nicht eskalieren, schließlich ist die Oma schon so krank.

Doch keiner schreit mich an, schlägt mich oder verbessert mich auch nur. An meiner gerührten Dankbarkeit merke ich, wie groß meine Paranoia längst sein muss. Im Internet wird man ja für ungeschicktes Wording immer voll zur Sau gemacht. Aber zum Glück ist das hier nicht das Internet, sondern Real Life, auch wenn das sicher bald dasselbe sein wird.