Grenzenlose Korrumpierbarkeit

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19. Januar 2017.

Der Anruf kommt spät, aber er kommt. Was bleibt ihnen auch anderes übrig? Am Telefon fragt mich eine müde klingende Dame, die mit der Organisation des Beiprogramms zu Donald Trumps Inauguration betraut sein will, ob ich dort eine meiner Geschichten lesen könne. Auch auf deutsch, kein Problem, es gehe schließlich um die Geste. Donald würde sich wahnsinnig freuen und ich sei von Anfang sein Wunschkandidat gewesen. „Hanneman or no man“, habe Trump klargemacht, die Feier entweder mit mir oder ganz ohne künstlerischen Beitrag zu begehen. Doch bis eben habe man vergeblich versucht, mich zu erreichen.

Ich glaube, die Frau lügt. Ich war die ganze Zeit zuhause und habe wie immer auf das Läuten des Telefons oder der Türklingel gewartet. Da war nichts, ebenfalls wie immer. Natürlich haben sie sich zuerst bei Madonna und Co. gemeldet. Darüber bin ich auch nicht böse, das ist doch ganz normal. Einmal googeln genügt, um zu wissen, dass ich auf der Liste der künstlerischen Prominenz zurzeit Platz 1.547.032.725 belege, was in etwa dem Rang von Claus Weselsky, dem Vorsitzenden der Lokomotivführergewerkschaft, in der Thronfolge des britischen Königshauses entspricht. Trotzdem wusste ich, dass mit jedem Tag und jeder weiteren Absage immer unbedeutenderer Stars meine Aktie steigen würde.

Ich brauchte nur zu warten. Denn keiner will dahin. Kein Künstler, der etwas auf sich, und auch keiner, der nichts auf sich hält. Es spielt keine Rolle, wer in oder wer out, noch nicht mal, wer rechts oder wer links ist; die Blöße, vor der ganzen Welt als Trumps Nebenlachnummer dazustehen, will sich noch nicht mal der schlimmste Comedian geben. Als nach dem schielenden Einballjongleur und dem Origami-Typen auch noch Bob Geldof absagte, fragte das verzweifelte Organisationskomitee erst alle Kinder mit Zauberkasten und ganz am Ende bei Lesebühnen an.

Lesebühnen sind, um das eher berlintypische Format hier kurz in den Worten des Feuilletons zu erläutern, Veranstaltungen, bei denen die Vortragenden im Unterschied zum bekannteren Poetry Slam zu schlicht sind, ernste Themen zu verhandeln, zu dumm, ohne Pointen zu arbeiten, zu faul, ihre Texte auswendig zu lernen, und zu feige, sich einem Wettbewerb zu stellen. Es machen auch weniger Frauen mit, woran natürlich nie die Frauen schuld sind, die nicht mitmachen.

Von diesen traurigen Gestalten musste ja früher oder später eine anbeißen. Zweihundert Dollar Gage, der Flug mit Ryan Air (Umsteigen auf den Azoren), Unterkunft in einem Motel im lebhaften Washingtoner Viertel „Crack Terraces“ sowie drei Getränkemarken für den Erfrischungsstand: Das ist ein Angebot, das ein Lesebühnenautor nicht ausschlagen kann – diesbezüglich zeigen sich die Amerikaner bestens informiert. Da sage noch einer, die NSA sei zu nichts nutze.

Doch selbst in diesem Lineup der Elenden musste ich mich zunächst hintanstellen. Das merkte ich an der Rundmail von Micha Ebeling mit der Nachfrage um den 15. Januar herum, wer denn dieser Trump sei und ob da schon mal jemand von uns vorgelesen hätte. Alle waren sich daraufhin einig, dass das gar nicht ginge, sogar diejenigen, die schon mal in dem Autohaus in Marzahn oder bei Dieter Nuhr aufgetreten waren. Denn auch meine Kollegen kennen Schmerzgrenzen.

Ich aber nicht. Die Nebenlachnummer ist meine. Für Geld mache ich alles. List, Gewalt, Betrug, Schmeichelei – mir ist jedes Mittel recht, von ehrlicher Arbeit allenfalls abgesehen. Als Judas hätte ich Jesus noch die Latschen geklaut, bevor ich ihn verraten hätte. Seine Mutter hätte ich zum Betteln geschickt und den Heiligen Geist an Tontaubenschützen vermietet. Meine grenzenlose Korrumpierbarkeit verschafft mir nun einen uneinholbaren Vorteil. Denn ich bin offenbar tatsächlich der einzige Künstler auf der ganzen Welt, der bereit ist, an der Farce des Scheusals teilzunehmen.

Gleich, nachdem ich aufgelegt habe, packe ich den kleinen Rucksack – mehr als Handgepäck müsste ich selber bezahlen – und mache mich auf den Weg nach Schönefeld. Die Zeit ist verdammt knapp. Die müssen wirklich bis zuletzt gehofft haben, dass sie noch irgendeinen Feuerschlucker finden, der sich komplett das Hirn weggebrannt hat. Nun habe ich das Gerenne zur U-Bahn, zum Bus, zur Gangway.

Im Flieger schlafe ich hervorragend. Morgen dürfte es mich noch nicht mal jucken, wenn die gesammelten Top Ten der gängigen Vorlesealpträume wahr würden: 1. Keiner kommt. 2. Ich finde meine Texte nicht. 3. Ich weiß nicht, wo ich hin muss. 4. Irgendwas komisches ist mit dem Raum. 5. Ich kann mich nicht bewegen. 6. Ich kann nicht mehr sprechen. 7. Ich kann die Schrift nicht lesen. 8. Das Publikum ignoriert mich einfach. 9. Ich habe vergessen, eine Hose anzuziehen. 10. Mein Text ist vollkommen sinnlos.

All das wird in Washington keine Rolle spielen. Ich brauche nicht nervös zu sein. Die wenigen, die kommen werden, werden nichts von dem verstehen, was ich mache, und es wird ihnen auch egal sein. Herrlich. Das ist ja fast wie bei „Rakete 2000“.

27. Januar 2017

Ich bin endlich wieder zuhause. Die Überfahrt musste ich in der Kombüse eines Containerschiffs abarbeiten, weil ich das Ticket für den Rückflug nicht bekommen habe. Mein Geld ebenfalls nicht. Und Bücher hat auch keiner gekauft.

Dabei war ich richtig gut. Ich habe aus „Neulich in Neukölln“ gelesen, die Geschichte mit dem Glaser, wie immer, wenn ich vor Leuten mit überschaubarem Kapee und Humor lese. Trotzdem kam hinterher dieselbe Orga-Tante, die mich angerufen hatte, auf mich zu und sagte: „Sorry, this was not …“, und den Rest hab ich nicht verstanden, war alles irgendwie auf Englisch. Eigentlich war nur Melania cool. Sie hat mir ihr unverwechselbares Lächeln geschenkt und noch heimlich einen Müsliriegel zugesteckt, ohne den ich es wohl kaum bis zum Hafen in Baltimore geschafft hätte.

Nachträglich von der Festgage zurückzutreten und die eigenen Versäumnisse komplett auf den Künstler zu schieben, ist echt das allerletzte – das kennt man normalerweise nur von selbstverwalteten Kulturzentren in Schwaben. Die meinten wohl, es wäre meine Schuld, dass so wenige Zuschauer gekommen sind. Nur was kann ich denn dafür, wenn der Laden keine Werbung macht? Also das Weiße Haus in diesem Fall. Das sagen wir den Veranstaltern immer wieder. Am schlimmsten ist es an Unis (Aachen!), wo irgendwelche vollverpeilten Kiffer Asta-Gelder für Kulturveranstaltungen verbrennen, zu denen gar keiner kommen KANN, weil die Idioten sich nicht mal in der Lage sehen, auch nur nen Post-it-Zettel an die Tür zu hängen. Aber Inaugurationen sind offenbar nicht besser.

Perlen vor die Säue

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Auf meinem Winterspaziergang entdecke ich in der Seitenstraße einen kleinen Biobäcker und bekomme sofort Hunger. Im Laden beschlägt meine Brille und ich muss sie erst putzen, bevor ich das Angebot sichten kann. Trotzdem werde ich vorschnell nach meinem Wunsch gefragt.

Gemach“, bremse ich den Eifer der Angestellten. „Ich muss hier zunächst mal meine Sehhilfe in Ordnung bringen, um dann auf Basis der frisch gewonnenen Sinneseindrücke meine Kaufentscheidung zu treffen.“ Ich gefalle mir sehr in dieser elaborierten Formulierung. Das habe ich schön gesagt. Ein Satz wie ein Spiegel, in dem ich mich, wieder und wieder um die eigene Achse drehend, selbstverliebt begaffe. Ich bin ein großer Dichter, immer im Dienst. Jedes einzelne Wort, das ich von mir gebe, und beschriebe es den banalsten Gegenstand, ist ein beherzter Kniefall vor der deutschen Sprache.

Diesen Satz lege ich nun als Geschenk der Bäckereifachverkäuferin zu Füßen. Irgendwie will ich damit auch originell und witzig sein, vielleicht verbirgt sich sogar noch eine Art verstockter Greisenflirt dahinter, keine Ahnung, man steckt ja nicht mehr so ganz drin.

Aber sie reagiert schmallippig. Das waren wohl Perlen vor die Säue. Jeder andere hätte ihr ein ohnehin weit eher angebrachtes, „mal langsam, du siehst doch, dass ich nichts sehe, du Punze“, entgegengeschleudert, wo ich ihr eine Girlande aus bunten Buchstaben um den Moment gewunden habe, um diesen so für sie auf ewig unvergesslich zu machen, und ihren Alltag in einen nie für möglich gehaltenen Glanz zu tauchen: den Glanz der Poesie.

Aber nein. Sie gibt sich nicht die geringste Mühe, ihren Unmut zu verbergen. Und noch genervter wirkt sie, als ich einen Muffin bestelle, „ein Muffin, bitte“, und das so ausspreche wie die „Mumins“ mit Betonung auf der letzten Silbe. Im Muffintal, höhö.

Von Begeisterung weiter keine Spur. Ich muss an meine Freundin Q. denken. Die gerät jedes Mal dezent in Rage, wenn sie Zeugin einer solchen Szene wird. Aber komischerweise nicht über die vermaledeiten Kleingeister, sondern über mich. Es kann durchaus passieren, dass sie mir dann einen Vortrag hält.

Die Leute müssen hier arbeiten und haben dabei überhaupt keinen Bock auf das prätentiöse Geseier von wildfremden Kunden. Die finden dich nicht toll oder so. Sondern einfach bloß peinlich und übergriffig. Deine Ironie“ – sie malt mit vier Fingern Anführungszeichen in die Luft – „kannst du dir da echt sparen. Und sowieso und vor allem“ – sie macht eine bedeutsame Pause – „ist das leider alles schlicht nicht witzig. Null. Nichts. Nie. Ich versteh das ja auch nicht. Du schreibst doch eigentlich ganz lustige Sachen. Also manchmal. Also selten. Aber immerhin. Das ist schon merkwürdig. Weil mit dem Sprechen, nee wirklich, ich bitte dich, halt die Fresse und schreib! Dann ist alles gut.“

Zwei Euro“, sagt die Verkäuferin und ich zahle stumm, obwohl auf dem Schild ein Euro sechzig steht. Wahrscheinlich Laberzuschlag, selber Schuld. Oder Pfand für diese Papierkrempe unten um den Muffinfuß rum. Krempenpfand. Ich muss mir sehr auf die Zunge beißen, um diesen, wie ich finde überaus witzigen, Einfall nicht auf der Stelle an die Adressatin zu bringen. Auf dass ihr Tag noch mehr erstrahle. Aber gut: Wer nicht will, der hat schon.

Ich lasse die Verhaltenstipps durchaus an mich heran. Den Blick von außen finde ich wertvoll. Man selber ist ja gern mal zu betriebsblind, um noch feststellen zu können, ob die eigene Brillanz auf fruchtbaren Boden fällt, oder ob Intelligenz und Humor des Gegenübers einfach nicht ausreichen. Dann kann man sich das nämlich sparen.

Auf dem Uferweg esse ich im Gehen den Muffin. Leider klebt die Krempe total am Teig. Sie geht überhaupt nicht ab, so dass ich kurz rätsle, ob die vielleicht Esspapier verwendet haben. Nein, haben sie nicht. Das ärgert mich. Immerhin hat das Teil in dieser Dinkelapotheke für Geldgrüne ein Vermögen gekostet. Ich spiele mit dem Gedanken, umzukehren und das Gebäck zu retournieren. Ihr Altpapier können sie selber fressen.

Bestimmt würde sich die Verkäuferin freuen. „Heißa“, wird sie denken, wenn sie mich bereits draußen vor dem Laden erspäht. „Heißa: da kommt wieder dieser witzige und kluge Mann. Ich werd‘ verrückt vor Freude!“

Und ich werde sie nicht enttäuschen. „Gnädige Frau. Ich bedaure außerordentlich, Ihnen mitteilen zu müssen, dass sich Ihr Muffin bei der Feuerprobe seines Verzehrs als ausgesprochen schadhaft erwiesen hat.“ Das wird sicher sehr schön. Beschwingt beschleunige ich meinen Schritt.

Moderne Zeiten

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„Zwiebelchen, Zwiebelchen, Zwiebelchen“, höre ich mich brabbeln, je näher ich dem Gemüsestand komme. Die Leute gucken irritiert, aber ich kann nicht damit aufhören. Wenn ich nicht einem fort „Zwiebelchen, Zwiebelchen, Zwiebelchen“, vor mich hin murmle, vergesse ich, Zwiebeln zu kaufen.

Es mag ja sein, dass ich ein wenig wunderlich geworden bin. Aber ich kann mir auch nicht mehr so viel merken, deshalb steuere und unterstütze ich mein Gehirn mit fortwährenden Ansagen. „Links, recht, links, rechts“, damit ich beim Gehen nicht die Schrittfolge durcheinanderbringe und stolpere, „einatmen, ausatmen“, damit ich nicht ersticke oder hyperventiliere. Und in regelmäßigen Abständen frage ich mich: „Wird es nicht irgendwann mal wieder Zeit, aufs Klo zu gehen, lieber Ulrich?“ Das dient schließlich auch den Menschen in meiner Umgebung.

Jetzt stehe ich direkt vor den Auslagen. Knoblauch, Kartoffeln, Zwiebeln. „Zwiebelchen, Zwiebelchen, Zwiebelchen“, sage ich hartnäckig. Gerade so kurz vor dem Ziel soll nichts mehr schiefgehen.

Doch warum ausgerechnet „Zwiebelchen“, mag nun so mancher fragen: Warum hier der Diminutiv? Nun, es ist wegen der Angst. Im reiferen Alter kann man sich nicht nur weniger merken, man versteht auch immer weniger, was um einen herum vor sich geht. Alles fühlt sich fremd und unheimlich an. Was die Leute sagen. Das Internet, die Politik, die Jugendlichen, die Ausländer, der Mobilfunk, die Sexualität, die Eisenbahn, das Wetter. Aus dieser Verunsicherung erwächst Angst. Auch beim Überqueren der Fahrbahn. Man möchte im Grunde nicht mehr aus dem Haus gehen.

Doch leider muss man ja zum Beispiel Zwiebelchen besorgen. Wer in kindlicher Regression alle und alles verniedlicht, fühlt sich einfach behüteter. Fast so, als befände er sich noch als Embryo im schützenden, warmen Mutterleib. Alles wirkt weniger bedrohlich. Bisschen Krieglein hier, el niño dort, ein paar Gletscherchen schmelzen – goldig! – zu noch kleineren Gletscherchen, überall poppen – winke, winke! – putzige kleine Rechtspopulisten wie Pilze aus der braunen Wiese. Eine Welt zum Knuddeln.

So sage ich auch „Erdi“, wenn ich über Erdogan spreche. Das macht das Böse kleiner und menschlicher für mich. Holt es auf eine Ebene herunter, die ich ertragen und begreifen kann. Die mir weniger Angst macht.

Erdi klingt wie so ein Kumpel aus der Schulzeit, als wir für einander immer solche Namen hatten. Erdi, Grütze, Brille, der Bronson, der Mongo, die Kröte und die Euter. Pc war das alles nicht und dennoch ein Zeichen für Vertraulichkeit. Der Erdi war schon damals nicht ganz dicht, aber irgendwie doch ein feiner Kerl. Er war für jeden Scheiß zu haben. Schon mit sieben konnte er Trecker fahren und einmal ist er absichtlich von einem fünf Meter hohen Baumhaus runtergesprungen. Wahnsinn. Der Erdi war so witzig. Ein anderes Mal sind wir nachts in seinem alten Käfer megastramm von der Kneipe zurück nach Hause. Und dann, in einer unübersichtlichen Kurve mitten auf der Landstraße, er so die Vollbremsung. Die Fahrertür aufgerissen, auf die Fahrbahn gereihert. Tür wieder zu, weitergefahren. Als wäre nichts gewesen. Das war typisch Erdi.

Erdi, Assi, Trumpi, Petri – alles halb so schlimm. Von Erdi hab ich dann bei einem Klassentreffen gehört, er wäre in den Neunzigern vor einem Puff in Bangkok erstochen worden. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber nach der Baumhausgeschichte war er eh nie mehr so richtig der alte. Unsere Wege haben sich denn auch bald getrennt: er Bewährung, ich Abitur.

„Zwiebelchen zur Kasse, Zwiebelchen zur Kasse, Zwiebelchen zur Kasse …“ Die Angestellten im Kaufladen blicken mich entgeistert an. Sie müssen sich das jeden Tag anhören: diesen Typen, der nonstop seine Einkaufsliste herunterleiert. Ich sehe ihnen das nach. Sie haben schließlich auch nur Angst. Wie wir alle. Würden sie mich besser kennen, wüssten sie natürlich, dass alles seine Ordnung hat. „Einatmen, links, rechts, Zwiebelchen bezahlen, Zwiebelchen bezahlen, links, rechts, ausatmen.“ Und dann nach Hause. Und dann aufs Klo. Nach Hause und aufs Klo, nach Hause und aufs Klo, nach Hause und aufs Klo … (fade out)

Vogelfrei

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Kaum drei Wochen nach dem Anschlag in Berlin bin ich beim „Facebook Safety Check“ noch immer nicht als „safe“ markiert. Erst hatte ich den Sinn nicht ganz verstanden und danach den Schwachsinn sowieso wieder vergessen. Nun ist der beste Zeitpunkt längst verpasst.

Okay, mich hat auch keiner gefragt. Nicht, dass ich beleidigt wäre, keineswegs, und wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus, ich merke das nur an. Für die Statistik. Das darf ich doch noch, oder? Ein paar andere wurden ebenfalls nicht gefragt, haben sich aber trotzdem markiert. Das finde ich ein bisschen armselig. Wie zu einem Kindergeburtstag zu gehen, zu dem man nicht eingeladen wurde, und dann nur aus Mitleid nicht weggeschickt zu werden. Denn die allermeisten meiner Friends wurden von anderen aufgefordert, sich zu melden – „hat während ‚der Anschlag in Berlin‘ angegeben, in Sicherheit zu sein, nachdem ein Freund gefragt hat, ob es ihr gut geht“ – und haben sich daraufhin als „safe“ markiert. Manche wurden sogar gleich von anderen markiert.

Bei den wenigen Kandidaten, die so wie ich gar nicht reagiert haben, steht nun oft „zuletzt gepostet: vor zwei Tagen“, als ob das irgendwen beruhigen könnte. Denn wer weiß, ob das jetzt nicht das Profil eines Toten ist. Dass Zombies gerne kommentieren, sieht man schließlich jeden Tag. Dazu posten sie Hyänenbabycontent; kleine Aasgeierküken, die niedlich mit den Augen rollen, wenn man ihnen das kahle Köpfchen streichelt; Youtube-Clips mit Schmeißfliegen, die Michael-Jackson-Songs summen. Und alle zwei Tage leisten sie sich die Eitelkeit eines neuen Profilbilds mit dem aktuellen Verwesungszustand. Benachrichtigung: „Zombie Koriander Hannemann hat heute Todestag. Wünsche ihm alles Schlechte!“

Mich hat jedenfalls kein „Freund gefragt, ob es mir gut geht“. Kein Sau wollte das wissen. Das ist ernüchternd. Ein menschlicher Offenbarungseid. Den wahnsinnig tollen und beliebten Volker zum Beispiel haben sage und schreibe vierzehn Leute gefragt. Volker? Volker. Volker! Bei mir ist es offenbar allen egal, ob ich lebe. Es ist ihnen sogar egal, ob ich tot bin. Wenn sie mir den Tod wenigstens wünschen würden. Hass wäre immerhin überhaupt eine Emotion – jemand denkt in irgendeiner Form an mich. Doch anscheinend reicht es nicht mal dazu. Es ist ihnen einfach nur rundum egal.

Das soll jetzt nicht nach einer Drohung klingen, aber auf diese Weise gebiert ein Anschlag doch sofort den nächsten. Frustration aus Mangel an Zuwendung: Das ist genau der Boden, auf dem die Menschenfeindlichkeit wächst und gedeiht. Auf einen vergeblichen Schrei nach Liebe folgt ein zweiter nach Rache gern auf dem Fuß. Wenn die Volkers dieser Welt uns inferioren Randexistenzen auch nur einen einzigen ihrer zahllosen Schleimer und Groupies abtreten würden, um uns zu fragen, ob wir in Sicherheit sind, könnte so viel Leid verhindert werden.

Aber beleidigt bin ich natürlich nicht. Gar nicht. Null. Ich komm schon klar – danke der ohnehin nicht gestellten Nachfrage. Der Starke ist am Mächtigsten allein. Und schließlich – so viel Selbsterkenntnis muss sein – kassiere ich hier bloß die Quittung für lange Jahre praktizierter Soziophobie und Unverbindlichkeit.

Ein bisschen genieße ich die Situation ja auch. Weil für die meisten bin ich ja nun tot. Oder zumindest nicht sicher lebendig, also eher so ein Zwischenzustand. Ich kann mich benehmen wie ich will. Ich kann alles kaputtmachen und muss nirgends bezahlen. Ich geh seitdem auch ständig aufs Damenklo. Einfach nur, weil ich es kann. Die Damen gucken zunächst zwar komisch, wenn ich da reinspaziert komme, aber ich sag dann immer gleich: „Achten Sie nicht auf mich. Ich bin faktisch nicht existent. Ich bin nicht als ’safe‘ markiert – prüfen Sie das ruhig nach!“ Manchmal holt tatsächlich eine ihr Smartphone raus und checkt meinen Sicherheitsstatus. Dann ist sie beruhigt.

Der Nachteil ist umgekehrt, dass man auch mit mir nun machen kann, was man will. Wer über keinen positiven Safety Check verfügt, hat pauschal sein Lebensrecht verwirkt. Ich bin sozusagen vogelfrei. Jeder darf meine Habe an sich nehmen, jeder darf mich (endgültig) töten, ja ist im Grunde moralisch fast dazu verpflichtet. Denn solange mein Vitalzustand komplett ungeklärt ist, bleibe ich ein schwelendes Sicherheitsrisiko für die Mehrheitsgesellschaft der Beliebten und Belebten.

Die Krönung seines Schaffens

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Bob Dylan stand in dem Schuppen, in dem er immer seinen Schrott zusammenschweißte, und schweißte seinen Schrott zusammen. Die Arbeit machte Spaß, er pfiff eine kleine Melodie. Im Grunde reichte ihm das völlig an Musik. Wenn es nach ihm gegangen wäre, würde er überhaupt keine Musik mehr machen, keine neuen Songs, keine Konzerte geben, nichts. Das brachte ja doch nur Ärger: Ständig riefen irgendwelche Leute an und wollten irgendwas von ihm. Viel lieber würde er bloß noch schweißen, hier in diesem Schuppen, Funken und Stahl und er allein mit sich und seinem Schweißgerät.

Bob Dylan schob die Schutzmaske hoch und betrachtete das Zwischenergebnis seiner neuesten Arbeit. Es sah ganz interessant aus: Er hatte ein paar Zinnsoldaten an eine alte Salatschüssel aus Gußeisen geschweißt, das ganze noch in eine Radfelge hinein und die wiederum auf den Literaturnobelpreis, einen in einem Horst aus Schreibfedern thronenden Adler aus Silber, der ein Buch zwischen den ausgebreiteten Schwingen hielt, und so tat, also ob er darin läse. Das geschmacklose Stück war erst gestern Nachmittag mit United Parcel gekommen und Bob Dylan war es gerade noch gelungen, den Boten abzufangen. Er musste ihm mit heruntergelassener Hose und einem zwischen die Backen geklemmten drei Meter langen Klopapierstreifen hinterherhetzen, damit das Paket nicht wieder beim Späti an der Ecke landete. Denn dort wäre es wohl wie so viele Sendungen für die Nachbarschaft unwiederbringlich verschwunden. Er wollte den Preis zwar nicht haben, aber als Material für sein Kunstwerk konnte er ihn immerhin verwenden.

Die Leute hielten ja eh immer alles für einen Teil seiner Kunst, da konnte er machen was er wollte. Sie waren offenkundig völlig durchgeknallt. „Man kann diese Reaktion mit gutem Recht unhöflich finden. Dylans Absage an die Akademie ist jedoch kein Affront. Sie ist die Krönung seines künstlerischen Schaffens“, soll zum Beispiel eine große deutsche Zeitung sein Nichterscheinen bei der Verleihung kommentiert haben.

Das war wieder so eine absolut typische Reaktion auf sein ganz normales, menschliches Verhalten. So genervt er auch war, musste der Barde dennoch stillvergnügt schmunzeln. Ohnehin schmunzelte er seit dem Tag der Preisverkündung für seine Verhältnisse ungewöhnlich oft vor sich hin. Es war schon irre. Er konnte sich so ignorant verhalten wie er wollte, sich wochenlang nicht melden, demonstratives Desinteresse zeigen, behaupten, er hätte „wichtigeres zu tun als in Dingenskirchen aufzuschlagen“ – einen Mau-Mau Abend mit seinen Hausangestellten, den Müll runterbringen -, ach was, er hätte auch einfach nur laut furzen können: Stets jubelten verlässlich irgendwelche intellektuellen Knalltüten aus dem Nobelpreiskomitee oder in den Medien, was für ein außerirdisches Genie hier eine neue Ausdrucksform gefunden hätte. Den abgespacten Späthippies fiel anscheinend nichts besseres ein als all seine, in ihrer Unverschämtheit eigentlich doch glasklaren, Ansagen in weitere Beweise seiner Größe umzudeuten, gerade so, als wäre sein ganzes Leben nichts anderes als eine einzige Performance im Dienst an einer kosmischen Kunst.

Dabei hatte er doch einfach bloß keinen Bock auf diesen Preis, den er nicht bestellt hatte, und fertig. Nicht auf die Zeremonie im Dezember, nicht auf eine Dankesrede im kommenden März und schon mal gar nicht auf den endlosen Flug mit dreimal Umsteigen und dem letzten Teil der Reise wahrscheinlich dann per Postbus oder Rentierschlitten in irgendein verschneites Kaff im hintersten Wurmfortsatz Europas, dessen Namen er schon Sekunden nach dem ersten Hören wieder vergessen hatte: Stuckem, Shockem, Stalker, was auch immer und falls das überhaupt noch in Europa war.

Aber bestimmt würden sie die nun folgende Botschaft verstehen, obwohl, aber auch gerade weil sie ausnahmsweise tatsächlich mal mit Kunst zu tun hatte. Er klappte die Maske wieder herunter, schmolz dem Adler mit dem Schweißgerät je einen ausgestreckten Mittelfinger in beide Flügel und lötete ein paar Nazi-Devotionalien und Blechdiddelmäuse dran. Anschließend startete er den zur Dampfwalze umgebauten Sitzrasenmäher und fuhr dreimal über den Schrottberg drüber. In die entstandene flache Vertiefung zwischen Salatschüssel und Felge schiss er am Ende noch einen großen Haufen.

Zufrieden musterte Bob Dylan das Resultat seiner Bemühungen. Er wickelte es bruch- und geruchsfest in Luftpolsterfolie ein, verstaute es in einem Packset Größe L und adressierte das Ganze an: „The Nobel Committee for Literature, Stalker, Sweden, Europe (?).“ Sollte ein solcher Wink mit dem Zaunpfahl immer noch nicht reichen, wäre diesen Leuten sowieso nicht mehr zu helfen.