Die neuen Künste

Immerhin hat das Stahlbad Straßenkunst auch Vorteile gegenüber dem sterilen Uniwissen.

Endlich sind die herkömmlichen Kunstformen auf dem Rückzug. Eine halbe Ewigkeit lang hat man uns mit dem drögen Kram zugeschissen, bis uns vor Überdruss die Augen tränten: Von verwitterten Höhlenstrichmännchen über die rechtsklerikale Sittenpropaganda der Alten Meister, nervenzerfetzende Katzenmusik, sterbenslangweilige Literatur, didaktische Mumblecore-Filme und törichtes Tanztheater bis hin zum performativen Bügeln von Brotscheiben, Zersägen tiefgefrorener Eichhörnchenkadaver oder Einwickeln von Klohäuschen in Geschenkpapier.

Doch zum Glück gibt es heute jede Menge erfrischender neuer Künste, die unter dem Eindruck des nahenden Weltuntergangs dynamisch ihre schnelllebigen Blüten entfalten. Denn wer hat schon noch die Muße für einen tausendseitigen Schinken oder den Besuch einer Gemäldegalerie, wenn draußen bereits radioaktive Sandstürme an den Fensterläden rütteln.

Da wären in erster Linie die Hick-Up Artists zu nennen, deren Kunst man inzwischen nicht mehr nur auf Youtube oder TikTok bewundern kann, sondern längst auch in der Tagesschau. Die Kunsthickser sind Teil einer neuen, unkorrumpierten Künstlergeneration, die Kunst nur um ihrer selbst willen betreibt, und dafür größte Unannehmlichkeiten in Kauf nimmt. Viele von uns machen sich vollkommen falsche Vorstellungen, gerade auch von den Anfängen eines Künstlerlebens: Lange schlafen, gut essen, kreativ sein unter ständigem Drogeneinfluss, eine Riesenauswahl an attraktivsten Sexualpartnern, und Stipendien in der Toskana bis zum Abwinken.

Aber von wegen! Es ist eine harte Schule. So ist es nicht ungewöhnlich, dass sich Hick-Upper ihr Studium an der Hickshochschule damit verdienen, während der Rotphasen die an den Ampelkreuzungen wartenden Autofahrer mit ihrem Kunstschluckauf zu unterhalten. Immerhin hat das Stahlbad Straßenkunst auch Vorteile gegenüber dem sterilen Uniwissen. Das Einüben neuer Techniken unter schwierigsten Bedingungen – das Wetter; der Geiz, der Spott und die Ignoranz der ungeduldigen Verkehrsteilnehmer – ist auch ein Lackmustest für die Belastungsfähigkeit, denn der Weg in die großen Mehrzweckhallen unserer Metropolen ist alles andere als mit Rosenblättern gepflastert. Die allerwenigsten Hick-Up Artists werden es auf den Olymp der Konzeptkunst schaffen. Die Auslese ist gnadenlos, Ruhm und Reichtum winken nur den Besten und Beharrlichsten.

Nicht jeder hat nun mal das Zeug zum Star. Außer dem Talent sind die Grundvoraussetzungen auch ein unbändiger Willen und vor allem eiserne Disziplin. Neben einer strengen Diät aus kohlensäurehaltigen Getränken und scharfen Spirituosen, muss über Jahre hinweg das Zwerchfell so trainiert werden, dass der Körper auf Kommando Hick-ups produziert. Durch die permanenten Kontraktionen ist das Zwerchfell eines Hick-Up Artists ähnlich ausgebildet wie bei Kraftsportlern der Bizeps. Der Anblick der markanten, rettungsringartigen Auswölbungen im Bereich des untersten Rippenbogens fällt Besuchern einer klassischen Hick-Up-Symphonie stets schon vor dem ersten Ton ins Auge.

Die Hick-Up-Kunst entwickelte sich übrigens aus der raueren, schlichteren, doch in den Augen ihrer Liebhaber auch reineren und ursprünglicheren Burp Art. Die Rülpskunst ist die primitive große Schwester des Schluckaufs – das Verhältnis der beiden zueinander ist vergleichbar dem zwischen mittelalterlicher Schalmei und moderner Klarinette, zwischen Anstreicher und Kunstmaler, Orang Utan und Homo Sapiens.

Eines Tages muss so einem Rülpser am königlichen Hof ein erster, rudimentärer Schluckauf entwichen sein. Dieser erste Hick-Up Artist wurde wahrscheinlich auf der Stelle geköpft, weil die Zeit für seine Kunst noch nicht reif war. Man war Rülpser gewohnt und wollte Rülpser hören. Das galt als treffliche Gaukelei, alles Neue hingegen als Teufelswerk (Galilei lässt grüßen!). Doch seine Nachfolger verfeinerten in Kellern und Branntweinschenken heimlich die Schluckaufkunst; diese schneidigen Burschen waren für das einfache Volk Helden im Widerstand gegen die Obrigkeit.

Von solchen Anfängen ist auch jetzt noch einiges zu spüren. Denn ob Hicksen oder Rülpsen: Gute Kunst ist immer auch politisch. Speziell unter dem Druck totalitärer Regimes entpuppt sie oftmals ihren subversiven Charakter. So mag ein außergewöhnlich raffinierter Schluckauf Außenstehenden bloß als schöngeistiger Zeitvertreib erscheinen, während die Unterdrückten ihm eine codierte Warnung vor Geheimpolizei oder Religionswächtern entnehmen, und die verästelte Melodie eines Kunstrülpsers könnte Eingeweihten den Weg zu einem konspirativen Treffpunkt weisen.

Heute ist vor allem Berlin ein Eldorado für die vielen jungen Hick-Up Artists aus aller Welt. Hier fanden sie zunächst ideale Bedingungen vor, Wohnraum und Kohlensäure waren billig, hier wehte noch ein echter Pioniergeist. Doch leider wird es nun auch in der deutschen Hauptstadt enger in den Häusern, Straßen und auch in den Herzen. Hick-Upper müssen sich die raren Spots für die Straßenkunst mit Fartists und Throw-Up Artists, sprich Kunstfurzern und Kunstkotzern, teilen; beides ausgerechnet Spezialisten, die relativ viel Ruhe, Achtsamkeit und Space benötigen, um sich auf ihr diffiziles Metier konzentrieren und angemessen entfalten zu können. Besonders die haptische Throw-Up Art lappt schließlich weit in den Bereich der bildenden Kunst hinein und benötigt entsprechend Raum, um die für sie typischen, ambulanten Exponate zu präsentieren. Die explosive Furzkunst wiederum ist für Publikum wie Ausführende ohne den nötigen Sicherheitsabstand bekanntermaßen nicht ganz ungefährlich.

So braucht man sich über die chaotischen Zustände nicht zu wundern, wenn sich hundert verzweifelte Kunstschaffende laut hicksend, furzend und sauer aufstoßend auch noch bei grünem Ampellicht mitten auf der Kreuzung um den Standplatz prügeln. Natürlich behindert das den Verkehr, doch wünschte man sich mehr Verständnis von den Autofahrenden. Ohnehin wäre ein aus dem Wagenfenster gereichtes Zweieurostück der ungestörten Fortsetzung ihres Wegs weitaus dienlicher als feindseliges Gezeter. Auch ein Mehr an Kulturförderung vom Bund würde die unhaltbare Lage garantiert entspannen. Das sollten uns unsere Nachwuchskünstler wirklich wert sein.

Icke und Icky

Mein Zahnarzt ist nicht so ein Fakirtyp, sonst würde ich da auch nicht mehr hingehen.

Mein weltweit größtes Idol ist im Grunde mein Zahnarzt, der mit dem Rücken zur Wand des irdisch Machbaren heldenhaft um meine Zähne kämpft. Denn die sind buchstäblich Brückenköpfe, die um keinen Preis fallen dürfen: Wo die Basis verloren geht, um erst Kronen und dann Brücken zu verankern, gerät der ganze Müll haltlos ins Rutschen, und irgendwann entlarvt sich das über Jahre mühsam in ein Gleichgewicht des Schreckens tarierte Gebiss als unhaltbares Lügenkonstrukt.

Es geht auch anders. Erst kürzlich habe ich ein aktuelles Bild von Iggy Pop gesehen: Eine Fresse, eine Haut, einen Körper wie ein fünf Jahre im Keller vergessener Schrumpelapfel von so einer uralten Wildsorte, die man aus guten Gründen nicht mehr anbaut, jedoch wahnsinnig gute Zähne – morgens, mittags, abends Aronal und Elmex. Ich bin praktisch ein Negativ von Iggy Pop, mit meiner einerseits apollinisch ebenmäßigen Supraästhetik, doch dafür eben krass beschissenen Zähnen. Wir zwei, Iggy und ich, Icke und Icky. Hier außen hui, und innen pfui, da umgekehrt.

Einmal hat mein Zahnarzt einen wunderschönen Satz gesagt. Der Kontext war folgender: Ich hatte damals Probleme mit einer Altlast seines Vorgängers. Unter einem eigentlich längst wurzelgetöteten und überkronten Zahn, rottete, in zugegebenermaßen tückisch verwinkelten Wurzelkanalenden, der Pfusch noch leise vor sich hin. In diese tiefsitzende Entzündung hinein musste der Neue nun mühsam nacharbeiten, um hoffentlich den Rest der Zahnsubstanz zu erhalten.

Zu Beginn jeder Sitzung wurde die Stelle ausgiebig betäubt. Doch für die spezielle Komplikation noch nicht gründlich genug. Der Restnerv grüßte aus der Hölle und ließ mich leise jodeln. Mein Zahnarzt ist zum Glück nicht so ein Fakirtyp, sonst würde ich da auch nicht mehr hingehen. Ich kotze nämlich schon, wenn ich nur die einschlägigen deutschen Redensarten höre: „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“, „Schnauze, du Sau“, und „Was dich umbringt, macht mich stärker“. Was soll das denn, sind wir im Krieg oder bin ich Reinhold Messner?

Dabei ist die Sache doch so einfach. Der Patient schreit und weint, zappelt, zittert und schlägt um sich. Ein seriöses Arbeiten wird dem Zahnarzt dadurch deutlich erschwert. Wozu also Folterknecht spielen, es sei denn, es handelte sich um einen sadistischen Verbrecher, dem es teuflisches Vergnügen bereitet, Menschen, Tieren, oder Pflanzen Schmerzen zuzufügen.

Doch zum Glück ist mein Zahnarzt kein solcher Unhold. Großzügig legte er nach, im Dienste des Patienten und der Menschlichkeit. Immer noch Aua. Nächste Spritze. Warten. Aua. Und dann kam der Satz: „So jetzt reicht’s, Herr Hannemann, ich spritz Sie jetzt tot!“

Genau mein Humor. Zufrieden schmunzelnd lehnte ich mich zurück. Keine Schmerzen, keine Angst, stattdessen nichts als warme Geborgenheit. „Herr Hannemann, ich spritz Sie jetzt tot“, hatte für mich in dem Moment denselben zarten Klang, wie „Der Kaffee ist fertig“, „Alles wird gut“, oder „Magst du noch ein Schokoladenbärchen aus dem Schokoladenbärchenbus?“

Im Nachhinein bewundere ich ihn für sein Fingerspitzengefühl. Denn gerade gegenüber Fremden braucht man schon ein verdammt gutes Gespür dafür, welcher Spruch geht, und welcher nicht. Schließlich befinden wir uns gerade mitten in der „Eulenspiegelzeit“, einer Epoche des Alles-wörtlich-Nehmens. Egal, ob aus vorgespielter Opferpose oder wirklicher Not, würde sich garantiert wieder irgendein Patient getriggert fühlen und empören. Der jahrelange Mordprozess führt am Ende mindestens zum Entzug der Approbation. Wer da noch einen Witz riskiert, hat meinen vollsten Respekt.

Tag der Arbeit

Wie ich sehe, gehören Tanktop, Sektflasche, Vaporizer und Strohhut zur Grundausrüstung der modernen Malocher.

Als ich am Nachmittag das Haus verlasse, ist alles voll mit jungen Leuten. Mit Sektflaschen bewaffnet, ziehen sie über die Bürgersteige und auch die Fahrbahnen. Für andere Verkehrsteilnehmer ist kein Durchkommen mehr, noch nicht einmal für Fahrradfahrer. Heute zeigen sie es uns Bonzen aber mal so richtig. Doch ich bin ein guter Verlierer. Außerdem gehört der Tag der Arbeit nun mal diesen Menschen, und dass er eine solche Masse von ihnen zu mobilisieren vermag, stimmt mich froh: Ich bin echt positiv überrascht, wie viele aufrechte Proletarier es offenbar noch gibt.

Diszipliniert stehen die Arbeiterinnen an den ambulanten Bier-, Fress- und Caipirinhaständen an, die vor allem im Bannkreis der Spätis wie Pilze aus dem Boden schießen. Aperol Spritz gibt es natürlich ebenfalls, die rote Farbe passt perfekt zum ersten Mai. Was für ein originär revolutionäres Gemisch: Rotfront, Rotsaft, Rotnase – Völker sauft die Liköre, auf zum letzten Getränk …

Geduldig warten sie auch in langen Schlangen vor den Cashautomaten. Dass sie das Leiden gewohnt sind – auf dem Arbeitsamt, am Fließband, dazu die Enge in den Mietskasernen – sieht man auch hier wieder. Kaum ein Klagelaut kommt über ihre zähen Lippen, allenfalls lautes Kreischen und Lachen, wenn man zufällig Freunden begegnet, oder einem einmal mehr eine volle Bierpulle auf den Radweg gefallen ist. Doch dann holt man sich – heureka! – eben einfach eine neue. Not macht erfinderisch, und der eiserne Durchhaltewille dieser braven Menschen ist legendär.

Die meisten der Werktätigen sind jung; die harte Fronarbeit hat in ihren Gesichtern bislang kaum merkliche Spuren hinterlassen, bis auf ein paar glasige oder stark gerötete Augenpaare. Das ist ganz erstaunlich. Nur wenn sie zur Straßenmusik sinnlos schreien, zucken und stampfen, bekommt man eine leise Ahnung davon, was diese Menschen täglich durchmachen müssen.

Die Arbeiterschaft ist international. Ich höre Englisch, Spanisch, Französisch, Italienisch, Dänisch. Und wie ich sehe, gehören Tanktop, Sektflasche, Vaporizer und Strohhut zur Grundausrüstung der modernen Malocher. Die Zeiten haben sich gewandelt, doch der Stolz bleibt. Was für ein Anblick – die Arbeiterklasse lebt! Und wie! Lenin hätte wahrscheinlich vor Freude geweint.

Redlich angetrunkene Arbeiter fahren nun zu dritt auf einem E-Roller im Slalom durch die dichte Menge vor dem U-Bahnhof. Sie rempeln einen schimpfenden Kollegen an, dem der Aperol rot aufs Seidenhemd spritzt, und fahren lachend weiter. Wer möchte es ihnen verdenken, denn es sind gerade sorglose kleine Momente wie dieser, der ihnen ein paar unbeschwerte Sekunden schenkt, in denen sie ausnahmsweise ihre Sorgen und Nöte, den Schinder an der Werkbank und den Zigarre rauchenden Fabrikbesitzer in seiner fetten Villa, die sie allein mit ihrem Schweiß und Blut bezahlt haben, wenn schon nicht vergessen, so doch immerhin für kurze Zeit verdrängen können.

Später komme ich schlecht in mein Haus wieder rein, weil erst eine Gruppe besoffener Amerikaner die Tür versperrt, und dann der Eingang voller Flaschen liegt. Aber ich verstehe ja, dass sie keine Zeit haben, ihren Müll wegzumachen. Morgen um sechs müssen sie bestimmt schon wieder bei Borsig an der Maschine stehen, in der Pizzafabrik am Hochofen, oder in der Werbeklitsche am Espressoautomaten. Da wollen sie wenigstens jetzt einmal ein bisschen feiern, und keine Flaschen wegräumen. Heute ist ihr Tag. Wer das nicht versteht, ist ein herzloses Ausbeuterschwein, das dieser hart schuftenden Schicht noch nicht einmal diese kleine Auszeit gönnt.

Abgehängt

Bald kommt hoffentlich der Rettungswagen und bringt mich in Sicherheit.

Auf halbem Wege nach Hause winkt in der Ferne eine mutmaßlich wildfremde Frau und schreit dabei irgendwas – wir beide auf dem Fahrrad. Ich schaue mich um, wem sie winken könnte, aber da ist niemand. Oh Schreck, die meint mich, denn nun ruft sie auch noch meinen Namen. Sie kennt mich, doch ich kenne sie nicht. Für mich sind alle Menschen gleich – eine zutiefst philanthropische Einstellung, die leider allzu selten mit der verdienten Anerkennung vergolten wird.

Ich rufe zurück, „hallo“, deute, mit beiden Armen fuchtelnd, meine angebliche Eile sowie mein Bedauern darüber an, und rase los. Da sie offenbar denselben Weg hat, muss ich deutlich schneller sein, sonst stellt sie mich, und kriegt raus, dass ich keine Ahnung habe, wer sie ist. An einer roten Ampel schlage ich wie ein Hase halsbrecherische Haken durch den vorfahrtberechtigten Verkehr, um meinen Vorsprung nicht nur nicht einzubüßen, sondern auch noch auszubauen.

So, rechts, links, rechts, links, abgehängt. Am Hermannplatz verschnaufe ich kurz, und räsoniere: Wenn ich hier immerhin schon mein eigenes Leben riskiere, nur, um nicht aufzufliegen, zu welchen Verbrechen wäre ich dann wohl fähig, um damit mein zwischenmenschliches Versagen zu kaschieren: zu einem Verdeckungsmord?

Würde ich also, geriete ich zum Beispiel auf der weiteren Flucht vor der unbekannten Bekannten in eine Sackgasse, und verbärge mich daraufhin notdürftig in einem Hauseingang, während ich sie draußen, „Hallo, Uli“, rufend, unaufhaltsam näher kommen hörte, solchermaßen in die Ecke getrieben tatsächlich mit dem Mute der Verzweiflung jäh aus dem Versteck hervorspringen, und sie mit bloßen Händen in einen tödlichen Kampf verstricken; sie oder ich, Wahrheit oder Pflicht? Wer von uns überlebt, ist zweitrangig, es dürfen bloß nicht beide sein. Und das alles nur, um nicht ignorant rüberzukommen, was ja eigentlich beweist, wie wichtig mir ein respektvolles Miteinander ist, auch wenn der Weg dahin im Moment etwas unorthodox erscheinen mag.

Aber das wird nicht nötig sein, aufgrund meines geglückten Entkommens. Oder doch? Denn in meinem Rücken sehe ich sie bereits wieder heranstrampeln. Oh Gott, wie kann das sein, wieso ist sie denn jetzt schon wieder fast direkt hinter mir, hat sie eine Abkürzung genommen?

Blitzschnell checke ich die Umstände. Für einen Mord wäre es hier viel zu belebt. Es wimmelt von potentiellen Zeugen, und darauf, dass die alle dichthalten, nur weil sie sich bestimmt auch schon mal in einer peinlichen Situation befunden haben, werde ich mich kaum verlassen können.

Jetzt gibt es nur noch eine Chance. Ich muss einen Herzanfall faken. Das ist mein Joker. Solange ich auf dem Asphalt röchelnd die Augen verdrehe, kann ich sie ja schlecht erkennen, das würde jede verstehen, und bald kommt hoffentlich der Rettungswagen und bringt mich in Sicherheit.

Und was mache ich dann in der Rettungsstelle? Springe ich einfach auf, ein Lazarus, dem man wie in „Pulp Fiction“ eine Adrenalinspritze ins Herz gejagt hat, schreie, „danke, mir geht’s wieder gut, liebe Grüße!“, und hüpfe gazellengleich davon? Oder lasse ich mir erst mal einen Herzschrittmacher einbauen, um meine Story aufrechtzuerhalten?

Beides hätte Nachteile. Denn leider zocken sie einem meistens schon im Rettungswagen Ausweis und Gesundheitskarte. Ein anonymer Abgang wird dadurch unmöglich. Da Gesichtsblindheit keine anerkannte Diagnose ist, haben die für Patienten wie mich wahrscheinlich längst ein eigenes Kürzel: SSH, Sozialsimulant Herzanfall. Und dann will die Krankenkasse den ganzen Einsatz von mir zurückerstattet haben.

Mein Gesetz

Auf meiner windgeschützten Südloggia gedeiht alles wie verrückt.

Jetzt, Ende März fällt mir ein, dass ja bald alles erlaubt sein wird. Denn ab 1. April darf jeder sein eigenes „Rauschgift“, wie bayerische, russische oder malaysische Politiker das harmlose Schwafelkraut nennen, züchten.

„Hurra, alles ist erlaubt“, sage ich beim Frühstück zur Frau. „Was hältst du davon, wenn ich mir im Netz ein paar Samen für psychoaktive Petersilie besorge, und die auf meinem Balkon anbaue?“ – „Gar nichts“, sagt sie. „Ich bin eh schon immer viel zu müde. Außerdem steh ich nicht so drauf. Aber mach halt, wenn du meinst.“

Ja, ich meine. Es bietet sich einfach an. Auf meiner windgeschützten Südloggia gedeiht alles wie verrückt, ohne dass ich einen besonders grünen Daumen hätte. Erdbeeren habe ich zum Beispiel von Juni bis November. Hanf wächst gut, ist anspruchslos und sieht schön aus. Für mich ist er vor allem eine dankbare Balkonzierpflanze. Angucken ja, Rauchen jein.

Logisch ist der Zeitpunkt für meinen Entschluss allerdings nicht. Immerhin hatte ich schon vor Jahren mal ein paar prächtige Pflanzen auf einer Dachterrasse hochgezogen. Der Genuss machte mich klug und schön, jedenfalls glaubte ich das, und es war mir natürlich egal, ob das erlaubt war oder nicht. Denn zum Glück bin ich intellektuell in der Lage, das nach eigenen Kriterien zu entscheiden: Finde ich selbst etwas prinzipiell okay, wie leicht werde ich erwischt und wie hoch ist die Strafandrohung.

Der Genuss machte mich klug und schön, jedenfalls glaubte ich das.

Alles andere ist doch Kindergarten, im Grunde bräuchte jemand wie ich gar keine Gesetze, ich bin mein eigenes Gesetz, ach was, ich bin das Gesetz schlechthin, ein perfekter Seismograf für das objektive Urteil, was gut und schlecht, richtig und falsch, Recht und Unrecht ist. Ich bin ein Clint Eastwood der Ebene. Besäßen alle Menschen meine sittliche Reife, wäre die Welt längst eine bessere, die Blumen und die Bienen würde einander mit seidigen Tüchlein in einem fort wohlig brummend die Schnäuzchen abwischen, überall wäre freier Eintritt und alle hätten immer Vorfahrt. Der Mohnkuchen wäre aus Schlafmohn, und zusätzlich zum Ostbeauftragten gäbe es auch noch Nord-, Süd- und Westbeauftragte, damit sich keiner benachteiligt fühlt.

So weit also zur zugrunde liegenden Theorie der gefühlten Individualbinnenrechtslage. Trotzdem käme es mir heute komisch vor, mir tonnenweise Dröhnung anzubauen und damit anschließend das Hirn zu beheizen. Denn mit wie vielen Substanzen soll ich mir eigentlich noch die Birne vernebeln – sind Bier und Nikotin etwa nicht genug? Geht irgendwo mal ein Joint rum, greife ich zwar aus schierer Gewohnheit zu, habe das Zeug sonst aber weitgehend von der Liste der Lieblings-Kopfverkehrsmittel gestrichen.

Ein weiterer Grund für die Zurückhaltung liegt im Hang zu einer paranoid destruktiven Selbstwahrnehmung, die die Zauberzigarette bei mir auslösen kann. Es gibt nun mal größere Vergnügen als mit glasigen Augen in Endlosschleife manisch vor sich hin zu problematisieren: Ich bin doch das allerletzte. Alles, was ich jemals in meinem Leben gemacht habe, war riesengroße Scheiße. Ich bin auch nichts anderes als Scheiße. Ich bin eine Witzfigur, die Scheiße macht, Scheiße baut, Scheiße schreibt und scheiße ist. Ich bin so eine erbärmliche Scheißwitzfigur. Wie bin ich bloß auf die Idee gekommen, es könnte irgendwie anders sein? Auf einmal sehe ich alles ganz klar. Das Gras wirkt auf mich wie ein Wahrheitsserum. Endlich weiß ich, wer ich wirklich bin

Aber so genau will ich die Wahrheit dann vielleicht lieber doch nicht wissen, wenn das überhaupt die Wahrheit ist, wer weiß das schon. Tomaten wachsen hier schließlich auch sehr gut.