Performative Writing

Lügt immer: Performative Male

Immer auf der Suche nach dem neuesten Riesenarschloch, treiben Gesellschaftsjournalistinnen nun die nächste Sau durch den Blätterwald. Diesmal haben sie aus dem in der Tiefe schlummernden, schier unendlichen Schatz misogyner Übelmänner einen Softie mit lackierten Fingernägeln, einen Heiratsschwindler und einen Pick-up-Artist geborgen, und daraus eine Art Weinsteins Monster zusammengezimmert: den sogenannten Performative Male.

Dieser niederträchtige Männertyp sitzt mit Buch und Brille im Park, um Frauen aufzureißen, die auf empfindsame Kuschelkater stehen. Die Accessoires sind nur Köder, die den Performative Male weich, intelligent und harmlos wirken lassen sollen. Denn das Buch mit dem Einband eines feministischen Standardwerks enthält nur leere Seiten, die Brille ist aus Fensterglas. Er muss schließlich gut sehen und darf nicht abgelenkt sein. Stundenlang sitzt er da, reglos wie ein Angler, und wartet bis eine unvorsichtige Frau anbeißt.

Dann schleppt er sie ab. Er wohnt im Keller des Verbindungshauses einer rechten Burschenschaft; in der tiefen Tasche seiner weiten Leinenhose ruht ein großes Klapptranchiermesser, mit dem er trefflich umzugehen weiß, wo er seine zarte Achtsamkeit nicht ausreichend gewürdigt sieht.

Doch zum Glück entlarven zwei zentrale Erkenntnisse den vorgeblichen Frauenversteher bereits im Vorfeld als Unhold. Die eine: Der Mann lügt immer, er ist ein geborener Schauspieler. Und die andere: Du kannst zwar den Mann aus dem Toxischen holen, aber nicht das Toxische aus dem Mann.

Wenn frau das erst einmal verinnerlicht hat, erkennt sie das Dreckschwein ganz leicht, denn notgedrungen ist sie mittlerweile so schlau wie das siebte Geißlein, das sich im Uhrenkasten verbirgt, wenn der kreidefressende Metrosexuelle vor der Tür steht, und sein vergiftetes Süßholz raspelt: Statt einen Gin Toxic bestellt er am Tresen eine Liebfrauenmilch, nur um die Girls in Sicherheit zu wiegen. Und befragt man ihn nach dem Inhalt seiner Parklektüre, kommt da nur ein stumpfes Grunzen. Schließlich ist und bleibt er ein Mann; da kann er sich noch so gründlich waschen, und noch so geschickt mit androgynem Fummel verkleiden.

Damit verschulden die Performative Males auch einen verheerenden Backlash in der Partnerwahl. Denn ihre Falschheit zwingt die Frau quasi zurück in die Arme der Nonperformative Males mit ihren festgetrockneten Bremsstreifen in den Monatsschlüppis, und ihrer old school Violence. Deren Frauenverachtung ist wenigstens ehrlich, damit kann man umgehen, dafür gibt es bewährte Tools: Frauenhaus, Scheidung, Gattenmord.

Doch das Vortäuschen von Haltungen macht beim Phänomen des Performative Male noch lange nicht halt. In sämtlichen Bereichen strömen nun die schamlosen Lügenbolde aus ihren Verstecken hervor, wie Ratten aus ihren Löchern.

Nehmen wir nur die Performative Mum. Zu tun als ob, ist auch ihre Devise, dabei gehen ihr die Gören komplett am Arsch vorbei. Sie will sich einfach nur fett trenden. Um die abgeschmackte Baby-Show echter aussehen zu lassen, hat sie sogar richtige Kinder; so wirken auch die Schilderungen von der Geburt authentischer. Den ganzen Tag schiebt sie Kinderwagen durch die Gegend, trifft sich mit anderen Müttern, und whattsappt mit der KiTa-Gruppe. Natürlich ist das eine Qual, vor allem für sie selbst. Viel lieber würde sie sich auf Ko Mai Tai um den Verstand saufen, doch für die perfekte Performance ist ihr kein Opfer zu groß. Wie sehr sie damit die Nöte echter Mütter verhöhnen, scheint den Pseudo-Mamas dabei völlig egal zu sein.

Ein anderer notorischer Betrüger ist der Performative Patient, nicht zu verwechseln mit einem Hypochonder. Der Performative Patient ist noch viel schlimmer. Denn er fühlt sich nicht nur krank, sondern er ist krank. Mit seinem impertinenten Leidenstheater aus Wehgeschrei und prahlerisch schlechten Blutwerten buhlt er massiv um Aufmerksamkeit. Zugleich blockiert er medizinische Kapazitäten, die sonst anderen Kranken zugute kommen würden, die sie ja ebenfalls brauchen. Eine derartige Rücksichtslosigkeit kennt man sonst nur von betrunkenen Rasern in Spielstraßen. Was glauben diese tückischen Egomanen eigentlich, wie unser Gesundheitssystem bei dessen ständiger Inanspruchnahme überhaupt noch funktionieren soll? Meinen sie, sie wären die einzigen, denen es irgendwie nicht gut geht? Denken sie, sie sind alleine auf der Welt?

Im Vergleich dazu wirkt sogar der abgefeimteste Performative Male noch halbwegs wie ein Mensch. Doch niemand ist mehr, was er scheint, alle faken nur noch irgendwelche Rollen. So findet der Performative Patient schnell seinen Meister, sobald er an einen Performative Doctor gerät. Das ist wie King Kong und Godzilla in einem Titanenkampf der Schwindler. Der Patient schreit, der Arzt verschreibt, und zwar einfach irgendwas, das die Performative Pharmacy jedoch leider nicht auf Lager hat. Wie sollte sie auch, sie spielt ja nur Apotheke, um Kunden anzulocken und dann zu verarschen. Und wenn es brennt, schaut kurz ein Performative Feuerwehrmann vorbei und zuckt lässig mit den Schultern.

Sand im Getriebe

Und mit dem neuen Carbon-Spoiler für unseren Porsche ist es genau dasselbe.

Im Bioladen erwartet mich ein Schock: Wo sonst immer der gute Crémant für 15 Euro steht, klafft nur eine hässliche Leerstelle im Regal. Vorübergehend ist mein ganzer Lebensmut dahin – ich fühle mich wie ein Luftballon, aus dem auf einmal sämtliche Luft entwichen ist. Doch dann straffe ich mich. Woanders herrscht Krieg und Hunger. Wenn man sieht, mit wie viel Zähigkeit und Mut die Leute dort ihr Los ertragen, kann ich das auch versuchen.

Also mache ich den Umweg von locker drei Minuten rüber zu dem großen REWE, der ja ebenfalls ein paar passable Tröpfchen im Angebot hat, und nicht nur diesen pissigen Sieben-Euro-Crémant de la Loire, mit dem wir immer die Scheibenwischanlage befüllen, seit unsere Peers von der Jungen Union erzählt haben, dass das den Vogeldreck besser wegätzt als einfaches Wasser, zum Beispiel von Gerolsteiner oder Apollinaris. Da gibt es noch mindestens vier weitere ganz okaye Sorten zwischen 12 und 17 oder 18 Euro, weiß nicht so genau, ist ja auch egal jetzt. Wenn du keine Plörre trinken willst, darfst du eh nicht auf den Cent schauen.

Und dann haben die alle (!) Marken ebenfalls nicht. Das ist schon krass. Ist ja Montag, die Regale sind leer. Langsam ist die Kacke aber mal so richtig am Dampfen. Ich spüre, wie sich mir ganz komisch das Herz zusammenschnürt, das hat fast schon was von einer Panikattacke. Eine psychische Ausnahmesituation, die ich meinem ärgsten Feind nicht wünsche. Was soll ich denn jetzt tun? Soll ich zu den Jakobsmuscheln Craft-Bier saufen?

Ich habe keine Ahnung, was da noch immer mit den Lieferketten los ist. Engpässe, Engpässe, Engpässe. Und mit dem neuen Carbon-Spoiler für unseren Porsche ist es genau dasselbe. In der Werkstatt sagen sie, der kommt einfach nicht, obwohl sie dreimal nachgehakt, und dabei jedes Mal hundert Euro mit in die Mail reingelegt haben. Seit drei Wochen fahr ich deshalb schon in so einem schäbigen Leasing-A6 durch die Gegend – die Nachbarn tuscheln schon. Spätestens seit der Pandemie knirscht überall der Sand im Wirtschaftsgetriebe. Nichts funktioniert mehr; frische Thunfischsteaks auf dem Winterfeldmarkt sind manchmal schon mittags ausverkauft. Man kommt sich vor wie ein Idiot.

Mangel allerorten, ob Hilfsgüter für die Hungernden, Flugabwehrraketen oder vernünftiger Crémant. In der Beziehung sitzt die Menschheit ausnahmsweise echt mal in einem Boot. Der Verzicht ist zur universellen Grenzerfahrung geworden. So was erdet ja auch. Ich kann nun endlich nachvollziehen, wie sich das anfühlt, wenn irgendwo die Lebensmittel nicht verteilt werden können. In dem Moment denkst du, dir schlägt da einer immer wieder mit dem Hammer auf den Kopf. So geht es mir zumindest ohne den Crémant. Ich könnte echt heulen.

So schlimm die Zustände dort sind, aber die Leute im Sudan haben das Problem immerhin nicht. Das muss man schon mal sagen. Die ahnen gar nicht, was das mit einem macht, wenn die hochgeschraubten Ansprüche – für die man ja nichts kann, weil man praktisch machtlos zusehen muss, wie die fatale Spirale des Wohlstands quasi von selbst eskaliert –, ständig enttäuscht werden. Das Ausmaß dieser seelischen Belastung können die sich nicht vorstellen.

Im Grunde beneide ich alle unbehausten Menschen für ihr unkompliziertes Leben. Die haben nicht den Mordstress mit der Hausverwaltung und den anderen Eigentümern, nur weil wir in der Remise im Hof eine Sauna einbauen wollen, die wir über Airbnb auch zusätzlich als Gästezimmer vermieten können. Kein Haus, kein Ärger. Und wer braucht schon einen Kühlschrank, wenn es keinen akzeptablen Crémant mehr gibt?

Der Traumdompteur

Ich bin ein Traumsurfer par excellence.

Ich hatte einen Traum.

Gemeinsam mit zwei Typen betrat ich durch eine Glastür erst eine Art Hotelfoyer, und dann den völlig leeren Saal eines großen Kaffeehauses im K & K-Stil. Einer war der Anführer, der andere mir ungefähr gleichgeordnet. Die beiden hatten zwar definierte Gesichter, aber keine bekannten, sondern eher die austauschbarer Traumavatare, die nur vorübergehend auch vertraute Züge annahmen, wie die des Cousins meiner Frau, und dann doch wieder nicht.

In der Mitte des riesigen Raums setzten wir uns an einen Tisch. Wir wollten einen Anschlag begehen. Irgendwas mit Russen. Wie und warum, wurde nicht weiter erklärt, ich wusste es im Traum einfach, weil da ja immer alles völlig stimmig erscheint. Man hinterfragt auch nichts. Erst nach dem Aufwachen wird es im Nachhinein unlogisch und schwammig.

Ein etwas schmieriger Kleinkriminellenavatar im Kellnermontur strich um uns herum, wie um uns zu bedienen, aber wir bekamen nichts. Das machte nichts, denn wir hatten es nicht eilig. Der „Chef“-character hatte einen Sprengsatz oder so dabei, den man nicht sah. Also auch wieder so ein unbelegtes Traumwissen. Wir anderen waren wohl ebenfalls bewaffnet, obwohl ich keine Waffe erkennen konnte. Allerdings habe ich mich schon im Traum gefragt, ob ich wirklich bewaffnet war, was das für eine Waffe sein sollte, und wo am Körper ich sie versteckt hielt, oder ob ich sie nicht doch vergessen, verlegt oder absichtlich nicht mitgenommen hatte, und das nun vor den anderen verheimlichte.

Ein Traum ohne mindestens einen unbehaglichen Aspekt von schlechtem Gewissen, Verlust- oder Versagensangst ist bei mir offenbar nicht drin. In diesem Fall mischten sich vermutlich die verschleppte Steuererklärung und der drohende TÜV mit einem grotesken Restauranterlebnis, dass ich vor Jahren mal im westukrainischen Lwiw hatte, der Reparatur unseres Flurlichts durch besagten Schwiegercousin, und der Tagesschau vom Vorabend, in der es um die Verhaftung eines Verdächtigen im Fall der gesprengten North Stream II ging. Ein typischer Traum also, in seiner wilden Mischung aus Erinnerungen, Erlebtem, Unverarbeitetem, sowie verschiedensten Film- und Fernseheindrücken.

Ich weiß noch, dass ich mich im Traum über die mangelhafte Bedienung weder wunderte, noch beschwerte. Denn je länger wir nichts bekamen, so mein schlafwandlerisches Traumwissen, desto länger würde der Anschlag herausgezögert, und desto länger würden wir auch überleben.

Mir war nämlich sogar im Traum völlig schleierhaft, wie wir hier nach der Tat unerkannt und zügig aus dem leeren Saal entkommen sollten, und hier begann der besonders merkwürdige Meta-Part des Traums.

Ich wusste ja, dass mir nichts passieren konnte, weil ich das ganze träumte. Darüber hinaus habe ich mir die Fähigkeit (man lernt so etwas wohl auch in Traumatherapien) angeeignet, besonders unangenehme Träume nach meinem Gusto und zu meinen Gunsten zu wenden, oder ganz auszusteigen, sprich zu erwachen. Sobald ich diese Bewusstseinsebene erreicht weiß, springe ich manchmal sogar mutwillig in Abgründe wie so ein Bungee-Jumper, aber ohne Seil, das brauche ich ja nicht, oder führe meinen eigenen „Tod“ anderweitig absichtlich herbei. Aus reinem Vergnügen, und weil ich es kann. Ich bin ein Traumsurfer par excellence. Mit Popcorn auf dem Schoß verfolge ich amüsiert mein eigenes Kopfkino.

Auf diesem Wege bin ich sogar langjährig wiederkehrende Alptraummotive losgeworden. Es ist, als hätten die Horrorwesen aus Frust darüber, dass ihr Kunde keine Angst mehr vor ihnen hat, ihre Arbeit eingestellt. Ich stelle mir vor, sie haunten nun stattdessen Julia Klöckner oder so, das wäre schön.

Zurück zum Traum. Während ich also wusste, dass mir nichts passieren konnte, weil ich ja träumte, machte ich mir ernstlich Sorgen um die beiden anderen. Weil die träumten das ja nicht. Sie waren argloses Traumpersonal, Komparsen meiner Phantasie. Wenn die Sache schief ging, würde ich mich in Luft auflösen, darüber lachen, dass ich „erschossen“ würde, absichtlich – juchhei! – durch die Glastür springen oder – ätschibätsch! – als letzte Exit-Strategie einfach aufwachen, so wie man einen rotgefährdeten Spieler auswechselt und damit dem Gegner die Chance zur Überzahl verleidet. Meine Traumstatisten aber – das war im Traum meine feste Überzeugung – würden all diese Schäden tatsächlich erleiden. Weil sie ja echt waren – ich träumte schließlich sie, und sie träumten nicht mich. Eigentlich müsste ich sie warnen: Leute, wir müssen abhauen, ich kenn’ mich aus, das ist immer noch mein Traum hier.

Doch der Beruf ging vor. Denn, so entschied ich im Traum weiter, das waren ja alles wahnsinnig kluge und originelle Gedanken, die ich mir unbedingt notieren musste, um später im Wachzustand darüber zu schreiben. Toll, toll, toll! Aufgeregt zog ich untem Tisch also mein Notizbuch (das gleiche, das ich in Echt benutze) unter meinem Schienbeinschoner (!?) hervor, unter dem ich nun immerhin auch eine Art niedliche zusammengeklappte Maschinenpistole fand, und kritzelte das Wesentliche eilig in ein paar kurzen Stichpunkten hinein, ehe ich in meinem Bett erwachen würde, wo ich dann doch bloß wieder nichts zu schreiben hätte.

Schlecht Kirschen essen

Oft schwelge ich in Gewaltfantasien.

Jeden Sommer sinkt verlässlich meine Laune in den Keller. Denn es ist Kirschenzeit, und die ist für uns gleichbedeutend mit der Zeit des Verlusts, der Enttäuschung und des Diebstahls.

Jetzt beginnt der Kampf Mensch gegen Amsel, und der sieht uns chancenlos. Vielleicht kann ich ja eines Tages die entsprechenden Fortbildungsmodule aufsatteln, um mich vom Suppenkasper zur Vogelscheuche weiterzubilden. Denn so amateurhaft wie ich den Heimatschutz zurzeit praktiziere, ergibt das keinen Sinn: Von morgens bis abends vor dem Baum mit den Armen zu wedeln, und zu schreien, „Weg da, ihr Schweine!“

Die lachen mich nur aus. Es fehlt gerade noch, dass sie mir die Kerne auf den Kopf spucken. Auf die Gefahr hin, kleinlich zu wirken: Die Amseln könnten uns wenigstens was abgeben, von dem bisschen, das uns der späte Frost gelassen hat. Die Hälfte, ach was, ein Viertel, oder wenigstens zehn Prozent.

Eine Kirsche, nur zum Probieren.

Bitte!

Es ist so demütigend, das kann man überhaupt keinem erzählen. Wir, die angebliche Krone der Schöpfung, werden von einem kleinen Vogel nach Strich und Faden verhöhnt und ausgeraubt. Keine Ahnung, woher heutzutage das Gefühl vieler Menschen kommt, von Jüngeren abgehängt zu werden; mir persönlich erscheint es weitaus schlimmer, von einem hundert Gramm schweren Piepmatz mit erbsengroßem Gehirn in den Arsch getreten und wie ein Tanzbär vorgeführt zu werden.

Wir können ihnen unsere eigenen Kirschen noch nicht mal abkaufen – sie brauchen ja kein Geld. Ihre Bedürfnisse beschränken sich auf ein paar Nestbaumaterialien, Regenwürmer und eben Kirschen. Damit halten sie uns Konsumisten elegant den Spiegel vor. Denn wir benötigen Autos, Kreditkarten und Sonnenschutzmittel.

„Wenn dieser flugunfähige Riesenvogel mit Plastiklatschen Kirschen haben will“, denken sie bestimmt, „soll er doch sein Auto nehmen und zu so einem Erdbeerhäuschen fahren. Da kann er mit seinem tollen Geld dann gerne einen Zentner Kirschen kaufen.“ Und nun – Amseln sind ja mit die besten Sänger der Vogelwelt – fangen sie an, den Kirschbaum-Song zu singen: „Das ist unser Baum! Schmeißt doch endlich Arsch und Loch aus unserm Garten raus …“

Deshalb bin ich jedes Mal erleichtert, wenn der Frost bereits die Blüte komplett vernichtet, so dass niemand etwas abbekommt, also auch die Amseln nicht. Das nimmt mir eine Riesenlast von meiner schwarzen Seele. Und noch besser: Neuerdings sieht es sogar fast so aus, als ob der Baum krank wird und stirbt. Die Blätter sind braun wie eine von der Miniermotte befallene Kastanie. Das erfüllt mich mit tiefer Schadenfreude, denn was ich nicht habe, soll auch sonst niemand haben. Nur ein toter Kirschbaum ist ein guter Kirschbaum.

Oft schwelge ich in Gewaltfantasien. Ich stelle mir vor, wie der Baum voller Kirschen lichterloh brennt, quasi rot in rot. Die Amseln schreien gellend. Sie sind zu vollgefressen, um flüchten zu können, ehe ihr Gefieder Feuer fängt, und müssen elendiglich verbrennen.

Doch sofort besinne ich mich: Wann bin ich eigentlich ein derart schlechter Mensch geworden? Sollte mich mein immenser Erfolg korrumpiert, und darob fühllos für die Belange anderer Wesen gemacht haben? Warum empfinde ich nicht einfach die unbändige Freude eines Menschen, der entdeckt, wie frei er ist, weil er sich endgültig von allem irdischen Besitz gelöst hat? Fort mit den Anhaftungen von Geiz, Gier und Selbstmitleid! Wir können so viel von den Amseln lernen. Es gibt kein Eigentum mehr. Alle sind schwarz. Fliegen ist umsonst und klimaneutral. Und Obst schmeckt ohnehin am besten, wenn man es gestohlen hat.

Schöneberg Diary

Einen hübschen Friedhof haben wir immerhin schon in der Straße.

Das Alter ist gekommen, ein Umzug in ruhigere Gefilde steht an. Und was würde sich da für urbane Best Ager wie uns besser eignen als ein Bezirk für hippe Alte, ein Kreuzberg light, ein Neukölln für Reiche; schwerer Rotwein statt pissiges Craft Beer oder olles Schultheiß – Schöneberg wir kommen.

Denn, wo wir wohnen, ist es nicht mehr auszuhalten. Krach, Stress, ein Ballermann für billigfliegende Sauftouristen aus der ganzen Welt – nonstop Rambazamba auf der singenden Nervensäge in Dur und Moll. Wir versuchen, den Rückzug nicht als Kapitulation zu sehen, als demütigende Flucht aufs Altenteil; auch befinden wir uns in guter Gesellschaft: Viele kommen jetzt zum Sterben hierher, auf diesen Elefantenfriedhof mit integriertem Sushi-Restaurant; Freunde leben schon dort, und es soll ja Leute geben, die wohnen sogar in Steglitz oder so. Dagegen schlägt hier ja noch direkt der Puls der Metropole, wenngleich nur schwach.

Dabei habe ich gar nichts gegen Steglitzer, im Gegenteil, einige meiner langweiligsten Freunde sind Steglitzer, und machen einfach ihr Steglitzding: Fuchs und Hase zu Bett bringen, vorlesen und gute Nacht sagen, den Bierpinsel anstarren, ab und zu am Birkbuschkanal Chrystal Meth rauchen. Echte Berliner kommen nun mal oft aus Marzahn oder Karlshorst, aus Reinickendorf oder eben Steglitz. Sie konnten sich das nicht aussuchen, sie können nichts dafür.

Ich wohne zwar auch schon 40 Jahre in der Stadt, aber gerade das enttarnt mich als in Unehren ergrauten Eventjugendlichen, der es sich eben schon aussuchen kann; damals wie heute. So achten wir bei der Auswahl des neuen Heims bereits darauf, dass das Haus auch einen Fahrstuhl hat. Damit ist die letzte Lebensphase eingeläutet, oder die vorletzte vor der Seniorenanstalt. Es wird ein langsames und vitales Dahinscheiden, wenn alles gut geht, noch weitere 20 oder 30 Jahre lang. Klug checken wir ab, dass es dort auch ein paar junge Familien gibt, die später für uns die Einkäufe erledigen können, wenn der Rollator in der Werkstatt steht. Und wenn es riecht, können sie die Feuerwehr rufen, die Polizei oder das Bestattungsinstitut.

Doch vor den Einzug haben die Götter den Auszug gesetzt. Weil wir nun endgültig zusammenziehen, ist es vor allem an mir, mein obstkistenartiges Altstudentenmobiliar zu entsorgen. Einiges verschenke ich, anderes fällt beim Zerlegen schon von selbst auseinander.

Beim Verklappen des Sperrmülls stelle ich mich mehrmals irgendwie dumm an, und werde dafür von den Müllleuten jedes Mal verhöhnt, zurechtgewiesen oder angeschrien. Und stets habe ich dabei das vage Gefühl, es auch verdient zu haben. Ein Hauch von französischer Revolution liegt in der Luft. Die Anschisse der Müllwerker sind eine Guillotine light, mit der sie den privilegierten Sesselpuper rasieren. Für mich sind das kathartische Momente. Von Müllmännern angepflaumt zu werden, ist wie ein Ablass für mein schlechtes Gewissen, weil sie in meinem stinkenden Dreck schuften, während ich mich, das verwöhnte Dichtermäulchen mit erlesenem Eiskonfekt beschmiert, in seidenen Kissen aale. Hätte ich nicht das Glück, wegen des Umzugs fast täglich angebrüllt zu werden, müsste ich mir eigentlich eine CD mit Müllmanngepöbel besorgen und abends vor dem Einschlafen anhören, um etwas für mein seelisches und politisches Gleichgewicht zu tun.

Nach dem endgültigen Umzug ist es in Schöneberg dann erst einmal komisch. Ihrem Umgangston nach zu schließen, sitzt die Hausverwaltung in Nordkorea. Bereits bei unserem ersten, und hoffentlich auch letzten Anruf dort, wird uns unmissverständlich klar gemacht, dass wir von ihnen nichts zu erwarten haben, keine Auskunft, keine Hilfe, noch nicht mal Restspuren von Höflichkeit, und gefälligst nie wieder anrufen sollen. Im Anschluss legen sie einfach nur grußlos auf, da sie uns durch die Telefonleitung hindurch nicht anspucken können.

Nachdem ich eine alte Mail zu Gesicht bekomme, in der dieselbe Verwaltung die eingesessenen Mieter unseres neuen Hauses de facto für den Stresstod einer Mitarbeiterin verantwortlich macht, weil sie den Papiermüll nicht ausreichend zerkleinert haben, komplettiert sich das Bild einer von pathologischer Déformation professionelle zur Unkenntlichkeit zernagten Seele. Willkommen in Schöneberg.

Auch die notorische Kontrolltante darf am neuen Ort nicht fehlen. Schon am ersten Tag brieft uns eine Hilde im Hof ausgiebig zum Thema Müllentsorgung. Ob sie Zuträgerin der meschuggen Verwaltung ist, oder hier auf eigene Faust ihrem Hobby nachgeht, müssen wir noch heraus bekommen. Bis dahin Vorsicht. Und davor und danach ebenfalls.

Bereits die ersten Begegnungen mit der neuen Blockwärtin haben uns mit Müllscham geimpft, und zu Bittstellern konditioniert, die eigentlich kein Recht auf Müll haben. Die Benutzung der Mülltonnen ist eine Gnade, die man sich über Jahre hinweg verdienen muss, und wir sind hier die Greenhorns, die sich erst mal ganz hinten anstellen müssen. Die Tonnen sollen sauber und leer bleiben. Und da so ein Einzug mit entsprechenden Baumaßnahmen zunächst sogar noch mehr Dreck als gewöhnlich verursacht, bringen wir den Abfall nur noch nachts raus. Nachts, wenn Hilde schläft.

Nachts, wenn Hilde schläft.

Doch wer weiß, ob sie für solche Fälle nicht eine versteckte Wildtierkamera bei den Tonnen installiert hat. Vielleicht sollten wir den Müll besser auf dem Balkon sammeln, und, sobald der überquillt, verbrennen.

Es müssen nicht immer schreiende Müllmänner sein. Das entschlossene Regiment einer alten Dame tut es auch. Es gibt Regeln für die Glastonne, Regeln für die Papierbehälter, Regeln für die Verpackungen, Regeln für den Restmüll. Regeln, die unbedingt befolgt werden müssen, sonst. Sonst werden wir wahrscheinlich in unser Elendsquartier rückgeführt. Und ich dachte immer, Prenzlauer Berg wäre die große schwäbische Exklave.

Apropos Prenzlauer Berg, die neue Umgebung ist überraschend weiß. Auf mich langjährigen Südostwestberliner wirkt so eine arisch gentrifizierte Zone seltsam, es ist fast wie in Ostberlin. Ansonsten passt die Bevölkerung eher in die Kategorie, die ich bislang unter dem Titel „typische Kreuzberg-61-Leute“ in meiner verstaubten Denkschublade abgeheftet habe. Nach so einer langen Zeit in Nordneukölln beziehungsweise am Schlesi eine etwas ungewohnte Klientel. Aber sie sind unser Spiegel. Das sind ab jetzt im Grunde wir; flotte Junggreise, getürmt vor Lärm, Schmutz und Partyvolk. Bestimmt wachsen uns hier bald bunte Seidenschals und Baskenmützen oder so.

Früher bin ich ständig umgezogen, da war das überhaupt kein Thema. Jetzt aber fühlen wir uns anfangs in einem Maße fremd und entwurzelt, das wir beide nicht für möglich gehalten hätten. Wir vermissen sogar die Crackraucher im Hauseingang, die Scherben auf dem Radweg, den pausenlosen infernalischen Krach Tag und Nacht, die stulle vor der Haustür herumtaumelnden Touristen mit ihren Sonnenbrillen bei jedem Wetter.

Auch positive Dinge fallen mir erst jetzt nach dem Zuzug auf, weil ich in den letzten Jahrzehnten nur sporadisch in der Gegend war. Zwischen Parks und Bahnstrecken entdecke ich quasi eine neue Stadt, mit einem intelligent geplanten Netz breiter Fahrradstraßen, zum Teil mit eigenen Brücken, durchs Grüne entlang der Bahntrasse. Hoffentlich bekommt die Berliner CDU davon nichts mit; wenn die merken, was hier los ist, machen die da gleich eine Autobahn hin. Es ist fast wie in Kopenhagen; alles ergibt so viel Sinn, dass mich die Irritation darüber an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringt. Wo bleibt der vertraute Hass auf die Bürger, das ist nicht mehr mein Berlin.

Zur neuen Infrastruktur gehört auch der größte REWE, den ich je gesehen habe, ein gigantischer Supermarkt, die Mutter aller REWEs, quasi eine eigene Stadt mit eigener Tiefgarage, ach was, ein eigenes Land von der ungefähren Größe des Saarlands, ein Schlaraffenland mit Kassenbereich. Es dürfte Jahre dauern, bis wir uns in den hundert Gängen auskennen und wissen, wo was steht. Die Schöneberger wissen zu leben, der Lebensmitteleinkauf ist der Sex des Alters. Oder war es umgekehrt?

Dazu kommen in Gehweite die beiden größten Biosupermärkte, die ich je gesehen habe, eine LPG und eine Bio-Company, irreal wirkende, wie vom Uranus gefallene, lichtdurchflutete Raumstationen eines postmodernen Lifestyles. Ich fühle mich in eine Utopie versetzt, in der Veganer sämtliche anderen Lebensformen verdrängt, und das Kommando über den Planeten übernommen haben. Die Zukunft ist da, und wir sind jetzt ein Teil von ihr.

Fragt sich nur, wie lange noch? Einen hübschen Friedhof haben wir immerhin schon in der Straße, zum Bersten voll mit Promiüberresten. Zwischen diversen Normalos liegen Rio Reiser, Thomas Gottschalk und Dieter Hallervorden oder was weiß ich. Auch die Gebrüder Grimm haben hier ihre Glassärge geparkt.

Allerdings geht es in dem Friedhof steil bergauf. Es ist bestimmt anstrengend, dort am Hang zu liegen. Von wegen „ewige Ruhe“, ächz. Jetzt jogge ich zwar neuerdings im Gleisdreieckpark, aber nach dem Tod brauche ich eigentlich kein Fitnessprogramm mehr. „Tote schwitzen nicht“, weiß ein transsylvanisches Sprichwort. Friede meiner Asche, und lieber ein Seebegräbnis, vielleicht ja im Schlachtensee – da fährt von hier aus auch direkt die S-Bahn hin.

Das wird mich mit den Kollegen versöhnen, denn speziell im Lesebühnenumfeld schlägt jeglicher Form nicht zielgerichteter Bewegung Argwohn entgegen. Sport ist hier ähnlich verpönt wie Kinderpornografie. Jeder Atemzug, und jede Muskelzuckung, die nicht ausschließlich dazu dienen, sich selbst oder einen Gegenstand aus existenziellem Anlass – sprich Ortswechsel, Lebenserwerb oder Nahrungsaufnahme – von A nach B zu bewegen, gilt als mit dem Ruch eines faschistoiden Askesegedankens behaftet.

Am Ende leben wir uns aber doch bald ein. Uns leise über klassische Literatur und Musik unterhaltend, flanieren wir durch die ruhigen Straßen des Nervenkurorts Bad Schöneberg. Unsere bunten Halstücher flattern träge im milden Frühlingswind. Es ist so still hier. Nur leise hört man weiter hinten die S-Bahn surren, oder schallt der krächzende Ruf eines Drogensüchtigen von der fernen Yorckstraße hoch, trauter Klang einer alten, mehr und mehr in Vergessenheit geratenden Welt, die an die erinnert, aus der wir kommen.

Hoffentlich bekommt die Berliner CDU davon nichts mit.