Moderne Zeiten

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„Zwiebelchen, Zwiebelchen, Zwiebelchen“, höre ich mich brabbeln, je näher ich dem Gemüsestand komme. Die Leute gucken irritiert, aber ich kann nicht damit aufhören. Wenn ich nicht einem fort „Zwiebelchen, Zwiebelchen, Zwiebelchen“, vor mich hin murmle, vergesse ich, Zwiebeln zu kaufen.

Es mag ja sein, dass ich ein wenig wunderlich geworden bin. Aber ich kann mir auch nicht mehr so viel merken, deshalb steuere und unterstütze ich mein Gehirn mit fortwährenden Ansagen. „Links, recht, links, rechts“, damit ich beim Gehen nicht die Schrittfolge durcheinanderbringe und stolpere, „einatmen, ausatmen“, damit ich nicht ersticke oder hyperventiliere. Und in regelmäßigen Abständen frage ich mich: „Wird es nicht irgendwann mal wieder Zeit, aufs Klo zu gehen, lieber Ulrich?“ Das dient schließlich auch den Menschen in meiner Umgebung.

Jetzt stehe ich direkt vor den Auslagen. Knoblauch, Kartoffeln, Zwiebeln. „Zwiebelchen, Zwiebelchen, Zwiebelchen“, sage ich hartnäckig. Gerade so kurz vor dem Ziel soll nichts mehr schiefgehen.

Doch warum ausgerechnet „Zwiebelchen“, mag nun so mancher fragen: Warum hier der Diminutiv? Nun, es ist wegen der Angst. Im reiferen Alter kann man sich nicht nur weniger merken, man versteht auch immer weniger, was um einen herum vor sich geht. Alles fühlt sich fremd und unheimlich an. Was die Leute sagen. Das Internet, die Politik, die Jugendlichen, die Ausländer, der Mobilfunk, die Sexualität, die Eisenbahn, das Wetter. Aus dieser Verunsicherung erwächst Angst. Auch beim Überqueren der Fahrbahn. Man möchte im Grunde nicht mehr aus dem Haus gehen.

Doch leider muss man ja zum Beispiel Zwiebelchen besorgen. Wer in kindlicher Regression alle und alles verniedlicht, fühlt sich einfach behüteter. Fast so, als befände er sich noch als Embryo im schützenden, warmen Mutterleib. Alles wirkt weniger bedrohlich. Bisschen Krieglein hier, el niño dort, ein paar Gletscherchen schmelzen – goldig! – zu noch kleineren Gletscherchen, überall poppen – winke, winke! – putzige kleine Rechtspopulisten wie Pilze aus der braunen Wiese. Eine Welt zum Knuddeln.

So sage ich auch „Erdi“, wenn ich über Erdogan spreche. Das macht das Böse kleiner und menschlicher für mich. Holt es auf eine Ebene herunter, die ich ertragen und begreifen kann. Die mir weniger Angst macht.

Erdi klingt wie so ein Kumpel aus der Schulzeit, als wir für einander immer solche Namen hatten. Erdi, Grütze, Brille, der Bronson, der Mongo, die Kröte und die Euter. Pc war das alles nicht und dennoch ein Zeichen für Vertraulichkeit. Der Erdi war schon damals nicht ganz dicht, aber irgendwie doch ein feiner Kerl. Er war für jeden Scheiß zu haben. Schon mit sieben konnte er Trecker fahren und einmal ist er absichtlich von einem fünf Meter hohen Baumhaus runtergesprungen. Wahnsinn. Der Erdi war so witzig. Ein anderes Mal sind wir nachts in seinem alten Käfer megastramm von der Kneipe zurück nach Hause. Und dann, in einer unübersichtlichen Kurve mitten auf der Landstraße, er so die Vollbremsung. Die Fahrertür aufgerissen, auf die Fahrbahn gereihert. Tür wieder zu, weitergefahren. Als wäre nichts gewesen. Das war typisch Erdi.

Erdi, Assi, Trumpi, Petri – alles halb so schlimm. Von Erdi hab ich dann bei einem Klassentreffen gehört, er wäre in den Neunzigern vor einem Puff in Bangkok erstochen worden. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber nach der Baumhausgeschichte war er eh nie mehr so richtig der alte. Unsere Wege haben sich denn auch bald getrennt: er Bewährung, ich Abitur.

„Zwiebelchen zur Kasse, Zwiebelchen zur Kasse, Zwiebelchen zur Kasse …“ Die Angestellten im Kaufladen blicken mich entgeistert an. Sie müssen sich das jeden Tag anhören: diesen Typen, der nonstop seine Einkaufsliste herunterleiert. Ich sehe ihnen das nach. Sie haben schließlich auch nur Angst. Wie wir alle. Würden sie mich besser kennen, wüssten sie natürlich, dass alles seine Ordnung hat. „Einatmen, links, rechts, Zwiebelchen bezahlen, Zwiebelchen bezahlen, links, rechts, ausatmen.“ Und dann nach Hause. Und dann aufs Klo. Nach Hause und aufs Klo, nach Hause und aufs Klo, nach Hause und aufs Klo … (fade out)