Kurz vor Wannsee

Schließlich hat der Kaiser ihnen die Eisenbahn gebaut …

Die älteren Sitzplatznachbarn im Regionalzug unterhalten sich über ihre Zeitungslektüre. Anfangs höre ich nicht richtig zu; der Mann sagt „Kamerun“ und „1914“, „Bundesregierung“ und „Deutschland“ und ich spitze erst so richtig die Öhrchen, als er sagt: „Wir Deutschen sind doch mal wieder die Gutmenschen der Welt.“

Dann gehörst du wohl nicht dazu, denke ich, und seine Begleiterin bemerkt, das klinge ja fast beleidigend. „Das ist auch so gemeint“, stimmt er zu, hörbar stolz darauf, dass sein Subtext verstanden wurde.

Ich weiß ich nicht genau, worum es geht, vermute aber aus dem Kontext, dass sich die Bundesregierung als Rechtsnachfolgerin der kaiserlichen Völkermörder nach über hundert Jahren endlich mal zu einer Art lauwarmen Entschuldigung durchgerungen hat: „Sorry, Leute, wegen Sklaverei und Genozid und Raubkunst und so, das war schon irgendwie voll doof, und wird zumindest in dieser Form wahrscheinlich auch nicht wieder vorkommen.“ Dem Herrn neben mir ist selbst das bereits zu viel.

Was will er denn, der Afrikaner?, denkt er bestimmt. Wir haben ihm doch die Grippe und das Schießgewehr gebracht, ihn Disziplin gelehrt und auch den rechten Glauben. Das haben wir natürlich in Rechnung gestellt: Erst Kautschuk, Elfenbein und später seltene Erden, ohne die wir nicht auf X herumkrakeelen könnten. Auch diese Regionalbahn würde nicht mehr fahren, und ob sein Herzschrittmacher mit Braunkohle aus der Lausitz liefe, ist ebenfalls die Frage. Dafür haben wir überall in Afrika geile Grenzen gezogen – die hätten ohne uns gar nicht gewusst, dass sie die überhaupt brauchen, und wo ein Land jeweils zu Ende ist. Also wäscht eine Hand die andere, bevor sie sie abhackt. Alles gut.

Aber nein, offenbar gar nicht gut, denn nun schwingen die da oben fromme Festtagsreden, während der deutsche Michel darbt. So kostet der High Protein Vanillepudding bei Lidl jetzt schon 89 Cent, es ist eine Frechheit, die Ampel, der Habeck, die Inflation, wir haben ja selber nüscht, und aus Afrika türmen immer mehr Undankbare zu uns, obwohl wir jahrelang dafür gesorgt haben, dass sie es dort so richtig schön haben. In Togo blickt man noch heute in die leuchtenden Augen alter Menschen, wenn man sie auf deutsch anspricht, der Sprache der historischen Wohltäter. Schließlich hat der Kaiser ihnen die Eisenbahn gebaut, unter der unwesentlichen Mithilfe sicher exzellent bezahlter einheimischer Arbeiter. Die funktioniert natürlich nicht mehr; wenn man nicht alles selber macht …

„Alles was recht ist“, sagt der Alte, wie um nicht nichts zu sagen, was ihm aber nicht gelingt. Er schaut aus dem Fenster nach draußen, ich folge seinem Blick. Dort steht ein Reh im Dunst, und noch ein Reh und noch eins. Drei Rehe also. Die haben es gut, denke ich, die sind an der frischen Luft.

„Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“, bemüht der Mann nunmehr ein Zitat, das man eigentlich eher als ironische Spitze von Links gegen Rechts kennt. Hier jedoch umgekehrt, denn längst kapern die Rechten vom Freiheitsbegriff über Wortwahl und Style bis hin zum zivilen Ungehorsam alles, was mal im weiteren Sinne links codiert war, drehen es durch den Wolf, kacken einmal drauf und präsentieren es anschließend stolz als ihres.

Auf einmal wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dass dieser Zug entgleisen möge, um dem Regionalgelaber neben mir abrupt den Dampf abzudrehen. Das würde zwar viele Unschuldige mit in den Tod reißen, unter anderem mich selbst, doch den Kollateralschaden nähme ich für eine bessere Welt liebend gern in Kauf. Der Zug hält nun in Wannsee. Da war doch auch mal irgendwas?

Die neuen Künste

Immerhin hat das Stahlbad Straßenkunst auch Vorteile gegenüber dem sterilen Uniwissen.

Endlich sind die herkömmlichen Kunstformen auf dem Rückzug. Eine halbe Ewigkeit lang hat man uns mit dem drögen Kram zugeschissen, bis uns vor Überdruss die Augen tränten: Von verwitterten Höhlenstrichmännchen über die rechtsklerikale Sittenpropaganda der Alten Meister, nervenzerfetzende Katzenmusik, sterbenslangweilige Literatur, didaktische Mumblecore-Filme und törichtes Tanztheater bis hin zum performativen Bügeln von Brotscheiben, Zersägen tiefgefrorener Eichhörnchenkadaver oder Einwickeln von Klohäuschen in Geschenkpapier.

Doch zum Glück gibt es heute jede Menge erfrischender neuer Künste, die unter dem Eindruck des nahenden Weltuntergangs dynamisch ihre schnelllebigen Blüten entfalten. Denn wer hat schon noch die Muße für einen tausendseitigen Schinken oder den Besuch einer Gemäldegalerie, wenn draußen bereits radioaktive Sandstürme an den Fensterläden rütteln.

Da wären in erster Linie die Hick-Up Artists zu nennen, deren Kunst man inzwischen nicht mehr nur auf Youtube oder TikTok bewundern kann, sondern längst auch in der Tagesschau. Die Kunsthickser sind Teil einer neuen, unkorrumpierten Künstlergeneration, die Kunst nur um ihrer selbst willen betreibt, und dafür größte Unannehmlichkeiten in Kauf nimmt. Viele von uns machen sich vollkommen falsche Vorstellungen, gerade auch von den Anfängen eines Künstlerlebens: Lange schlafen, gut essen, kreativ sein unter ständigem Drogeneinfluss, eine Riesenauswahl an attraktivsten Sexualpartnern, und Stipendien in der Toskana bis zum Abwinken.

Aber von wegen! Es ist eine harte Schule. So ist es nicht ungewöhnlich, dass sich Hick-Upper ihr Studium an der Hickshochschule damit verdienen, während der Rotphasen die an den Ampelkreuzungen wartenden Autofahrer mit ihrem Kunstschluckauf zu unterhalten. Immerhin hat das Stahlbad Straßenkunst auch Vorteile gegenüber dem sterilen Uniwissen. Das Einüben neuer Techniken unter schwierigsten Bedingungen – das Wetter; der Geiz, der Spott und die Ignoranz der ungeduldigen Verkehrsteilnehmer – ist auch ein Lackmustest für die Belastungsfähigkeit, denn der Weg in die großen Mehrzweckhallen unserer Metropolen ist alles andere als mit Rosenblättern gepflastert. Die allerwenigsten Hick-Up Artists werden es auf den Olymp der Konzeptkunst schaffen. Die Auslese ist gnadenlos, Ruhm und Reichtum winken nur den Besten und Beharrlichsten.

Nicht jeder hat nun mal das Zeug zum Star. Außer dem Talent sind die Grundvoraussetzungen auch ein unbändiger Willen und vor allem eiserne Disziplin. Neben einer strengen Diät aus kohlensäurehaltigen Getränken und scharfen Spirituosen, muss über Jahre hinweg das Zwerchfell so trainiert werden, dass der Körper auf Kommando Hick-ups produziert. Durch die permanenten Kontraktionen ist das Zwerchfell eines Hick-Up Artists ähnlich ausgebildet wie bei Kraftsportlern der Bizeps. Der Anblick der markanten, rettungsringartigen Auswölbungen im Bereich des untersten Rippenbogens fällt Besuchern einer klassischen Hick-Up-Symphonie stets schon vor dem ersten Ton ins Auge.

Die Hick-Up-Kunst entwickelte sich übrigens aus der raueren, schlichteren, doch in den Augen ihrer Liebhaber auch reineren und ursprünglicheren Burp Art. Die Rülpskunst ist die primitive große Schwester des Schluckaufs – das Verhältnis der beiden zueinander ist vergleichbar dem zwischen mittelalterlicher Schalmei und moderner Klarinette, zwischen Anstreicher und Kunstmaler, Orang Utan und Homo Sapiens.

Eines Tages muss so einem Rülpser am königlichen Hof ein erster, rudimentärer Schluckauf entwichen sein. Dieser erste Hick-Up Artist wurde wahrscheinlich auf der Stelle geköpft, weil die Zeit für seine Kunst noch nicht reif war. Man war Rülpser gewohnt und wollte Rülpser hören. Das galt als treffliche Gaukelei, alles Neue hingegen als Teufelswerk (Galilei lässt grüßen!). Doch seine Nachfolger verfeinerten in Kellern und Branntweinschenken heimlich die Schluckaufkunst; diese schneidigen Burschen waren für das einfache Volk Helden im Widerstand gegen die Obrigkeit.

Von solchen Anfängen ist auch jetzt noch einiges zu spüren. Denn ob Hicksen oder Rülpsen: Gute Kunst ist immer auch politisch. Speziell unter dem Druck totalitärer Regimes entpuppt sie oftmals ihren subversiven Charakter. So mag ein außergewöhnlich raffinierter Schluckauf Außenstehenden bloß als schöngeistiger Zeitvertreib erscheinen, während die Unterdrückten ihm eine codierte Warnung vor Geheimpolizei oder Religionswächtern entnehmen, und die verästelte Melodie eines Kunstrülpsers könnte Eingeweihten den Weg zu einem konspirativen Treffpunkt weisen.

Heute ist vor allem Berlin ein Eldorado für die vielen jungen Hick-Up Artists aus aller Welt. Hier fanden sie zunächst ideale Bedingungen vor, Wohnraum und Kohlensäure waren billig, hier wehte noch ein echter Pioniergeist. Doch leider wird es nun auch in der deutschen Hauptstadt enger in den Häusern, Straßen und auch in den Herzen. Hick-Upper müssen sich die raren Spots für die Straßenkunst mit Fartists und Throw-Up Artists, sprich Kunstfurzern und Kunstkotzern, teilen; beides ausgerechnet Spezialisten, die relativ viel Ruhe, Achtsamkeit und Space benötigen, um sich auf ihr diffiziles Metier konzentrieren und angemessen entfalten zu können. Besonders die haptische Throw-Up Art lappt schließlich weit in den Bereich der bildenden Kunst hinein und benötigt entsprechend Raum, um die für sie typischen, ambulanten Exponate zu präsentieren. Die explosive Furzkunst wiederum ist für Publikum wie Ausführende ohne den nötigen Sicherheitsabstand bekanntermaßen nicht ganz ungefährlich.

So braucht man sich über die chaotischen Zustände nicht zu wundern, wenn sich hundert verzweifelte Kunstschaffende laut hicksend, furzend und sauer aufstoßend auch noch bei grünem Ampellicht mitten auf der Kreuzung um den Standplatz prügeln. Natürlich behindert das den Verkehr, doch wünschte man sich mehr Verständnis von den Autofahrenden. Ohnehin wäre ein aus dem Wagenfenster gereichtes Zweieurostück der ungestörten Fortsetzung ihres Wegs weitaus dienlicher als feindseliges Gezeter. Auch ein Mehr an Kulturförderung vom Bund würde die unhaltbare Lage garantiert entspannen. Das sollten uns unsere Nachwuchskünstler wirklich wert sein.