Nachtrag zum Volksentscheid

Einfach „Ja“ ankreuzen und der Klimawandel ist quasi gestoppt, zumindest berlinweit.

Alles wäre so easy gewesen. Nur ein kleiner Krakel auf einem unscheinbaren Zettel aus Recyclingpapier hätte das höllenartige Berliner Klima im Nu in ein mildes Orchideenparadies verwandelt. Im Sommer beständige 25 Grad bei Sonnenschein; nachts regnet es, aber erst, nachdem die Außenbereiche der Lokale geschlossen haben – kurz, eine Art Madeira für wohnungslose Folienraucher. Denn wortwörtlich heißt es im Text zum Volksentscheid über ein klimaneutrales Berlin ab 2020: „Mit der Gesetzesänderung werden im Wesentlichen folgende Regelungen getroffen: Verminderung der CO²-Emissionen bis zum Jahr 2025 um 70 % und bis zum Jahr 2030 um 95 % gegenüber 1990.“

Yesss! Also ich bin total dafür. Denn leichter geht’s ja wohl nicht: eine markante und zügige Verminderung des schädlichen Kohlendioxydausstoßes allein per entsprechender Verfügung. Mir ist schleierhaft, wie da noch irgendwer dagegen sein kann. Das ist doch eine einmalige Chance für uns alle: Einfach „Ja“ ankreuzen und der Klimawandel ist quasi gestoppt, zumindest berlinweit. Klimaneutral ohne Verzicht – das muss doch auch die Skeptiker und Leugner ansprechen. Schließlich sind deren Hauptsorge vor allem die Unannehmlichkeiten, die der Klimaschutz oder schon der bloße Protest dafür mit sich zu bringen droht: Fleischverzicht, Verbrennerverbot, Tempolimit, Klimakleber, Staus, you name it. Noch nicht einmal der zähnenirschende Weiterbetrieb der Atomkraftwerke wäre nötig. Stattdessen genügt ein schlichter Amtsbeschluss.

Auch mir, als Befürworter des Fortbestands der Menschheit, macht der Gedanke an Einschränkungen ja selbst keinen Spaß. Niemand möchte der notorische Buhmann sein, der sich ständig wie so ne Kindergärtnerin vor die Gruppe stellt und in die Hände klatscht: „Leute! Bitte! Ich sag das doch nicht, um euch zu ärgern! Aber wir können nicht raus auf den Spielplatz, bevor ihr alle vernünftig angezogen seid!“

Da muss die Möglichkeit, mit einem einzigen lässigen Federstrich die Emissionen derart zu verringern, selbst den Renitentesten doch eigentlich wie ein Rettungsanker aus purem Gold erscheinen. „Alles lässt sich irgendwie regeln“, lautet die neue Frohbotschaft, „mit der geänderten Berliner Landesverordnung zum Klimaschutz wird hiermit das Auftauen des Permafrostbodens gestoppt, sowie weitere Waldbrände in Australien untersagt. Bei Zuwiderhandlung droht eine Geldstrafe.“

Was für eine eindeutige Win-win-Situation, ein Elfmeter ohne Torwart, eine Erstbesteigung mit der Seilbahn, ein veganes Schnitzel aus echtem Kalbsfleisch. Kein Ächz-Schwitz-Lastenfahrrad oder Bibber-Schnatter-Schwimmbecken, sondern nur mal eben schnell einer bürokratischen Lösung zugestimmt: Stift, Papier, Kästchen, Kreuzchen, fertig. Das-ist-das-Haus-vom-Ni-ko-laus Lauda. Das tut doch wirklich niemandem weh, und es wäre so eine tolle Gelegenheit gewesen, mühelos die Wende zum Guten einzuleiten. Wie kann man die bloß so vergeigen? Wer macht so etwas, und warum? Woher kommt bloß dieser Hass und dieses Misstrauen gegen die Berliner Politik?

Ein weiterer Pluspunkt der genialen Berliner Methode liegt ja auch noch in ihrer Geschwindigkeit. Immerhin haben wir nicht mehr viel Zeit, bis uns sämtliche Gletscher in Tornadoform um die Ohren fliegen. Dass die Emissionen sich durch eine lapidare Regelung innerhalb von nur zwei Jahren um sage und schreibe 70 % senken lassen, ist doch ein Geschenk Gottes an die Stadt Berlin, beziehungsweise umgekehrt. Wer dieses Geschenk nicht annimmt, kann ja wohl nicht ganz bei Trost sein, denn mit aufwändigen praktischen Maßnahmen wie Umstellung auf erneuerbare Energien, E-Mobilität und energetischen Sanierungen würde das viel länger dauern als mit diesem so klugen wie schlanken Blatt Papier.

Auch ein, ohnehin besonders schwer zu erreichender, Mentalitätswandel in der Bevölkerung wäre damit fein vom Tisch. Per aspera ad acta. Die einen können beruhigt die Sau rauslassen, bei den anderen ist sie bereits draußen. Alles kein Problem, denn eine gesetzliche Vereinbarung würde von nun an für uns arbeiten, und an unserer Stelle die Umwelt und die Ressourcen schonen, während wir einfach weitermachen wie bisher. Abstimmungszettel in die Urne, und anschließend sofort mit der doppelten Freude des guten Gewissens weiterrasen, weiterdüsen, weiterheizen, weiterfressen. Und weiterstrahlen, denn Atomkraft gehört in der öffentlichen Wahrnehmung inzwischen auch fast schon wieder zu den Guten.

Ab mit dem härenen Büßergewand in die Altkleidersammlung! Unseren Enkeln auf dem Schoß werden wir Geschichten von traulich knisternden Uranbrennstäben erzählen; ein lieber Bär namens Wissing wacht des Nachts, beständig brummend wie eine Autobahn, über ihren Schlaf; zum Nachtisch gibt es noch mehr Fleischwurst, liebe Kinder. Alles hätte so schön bleiben können, wie es war, plus CO²-Neutralität für umme.

Doch zu spät – die Chance ist vertan. Das Volk hat entschieden, und es hat scheiße entschieden. Anscheinend wollen die einen gar keine Klimarettung, und die anderen nur auf die harte Askesetour – Neandertaler versus Masochisten. Das können sie natürlich beides haben. Aber schade ist es schon. Es wäre so einfach gewesen, jeder nur ein Kreuz.

Wie ich mal einen Porsche überholt habe

Es besteht kein Zweifel: Wir überholen gerade einen Porsche.

Noch 540 Kilometer bis Berlin. Ich habe einen Lastwagen überholt, und dahinter taucht rechts neben mir ein Porsche auf. Er fährt schätzungsweise an die 120 Stundenkilometer schnell, und ich ungefähr einen Meter pro Stunde schneller. Es besteht kein Zweifel: Wir überholen gerade einen Porsche.

Zwar nur so einen Cheyenne, der aussieht wie alle andern SUVs, egal ob Dacia, VW oder Audi; ich weiß also gar nicht, wozu die Idioten sich dann einen Porsche kaufen, bestimmt machen die dann auch Glühwein aus Champagner, aber das kann mir doch scheißegal sein: Es steht Porsche drauf, ist Porsche drin, das zählt. Ich quieke laut auf vor wilder Freude. Der Fahrtwind zaust mein volles Haar und mein leeres Hirn.

Meine Frau möchte mir was vorlesen. Das ist nett gemeint, aber absolut der falsche Zeitpunkt. „Ich kann jetzt nicht, Frau“, schreie ich. „Ich muss mich konzentrieren: Wir überholen gerade einen Porsche.“

Sie blickt gleichgültig aus dem Beifahrerfenster: „Du meinst diesen hässlichen Muttipanzer da draußen?“

„Das ist ein Porsche.“ Ich bin heiser vor Aufregung. „Ein Cheyenne. Heißt wie ein Mädchen aus Hakenfelde, ist aber ein Porsche.“

Endlich ist sie still, und mühsam überholt das Schleichhörnchen. Ich könnte natürlich schneller fahren. Theoretisch sogar 150 oder so. Aber das will ich nicht. Es ist nicht vernünftig wegen Verbrauch und Umwelt und Gefahr und Alter von dem Auto. Das läuft schon bei 120 km/h auf 4000 Umdrehungen, und gleicht darüber einem All-Inclusive-Urlauber an der türkischen Riviera: laut und versoffen.

Deshalb halte ich mich immer strikt an meine eigene Richtgeschwindigkeit von hundertzwanzig. Denn wenn man da erst mal den Schlendrian einreißen lässt, und nicht ehrlich mit sich selbst bleibt, brechen bald alle Dämme: 125 km/h, 250 km/h, 1000 km/h. Als nächstes Ölwechsel im Naturschutzgebiet, extra vollstoff durch Krötenwanderungen matschen, Fracking und am Ende Mord? Wehret den Anfängen.

Doch behutsam gebe ich Gas: 120,5 km/h. 121 km/h. Wahnsinn, dass die Maschine das mitmacht! Ich kann mich nämlich auch flexibel den Umständen anpassen. Denn wäre ich wirklich so ein überkorrekter Strohmann, wie sie rechte Kabarettisten gerne aus viel Stroh und wenig Mann bauen, würde ich für immer neben dem Porsche verschimmeln. Weil ich ja, so stellen sich das diese Leute jedenfalls vor, wie paralysiert in meinem Wohlverhaltensdogma feststeckte, und keinen Ausweg aus dem Dilemma fände. Ich würde ihn weiter wie eine Schnecke überholen, stundenlang, ohne sichtbaren Fortschritt, bis er von der Autobahn abfährt. Ich kann ja nicht weg, ich bin ja auf der Überholspur. Und so blieben beide Autos in diesem Patt gefangen, wenngleich der Andere wahrscheinlich nicht das geringste von dem Drama ahnt, sondern sich einfach nur nicht stressen und in Ruhe Classic Radio hören möchte.

Weitaus realistischer wäre es jedoch, dass mich bis dahin längst so ein Rasernazi erst mit der Lichthupe anzählt und dann mit dem Kühlergrill von der Überholspur räumt. Die sind ja immer so ungeduldig. Sie haben kein Auge für die Schönheit des Vorgangs und die Größe des Moments, für dieses herrliche Ringen zwischen David und dem schlafenden Goliath.

Vor denen habe ich echt Angst. Es wäre mir deutlich angenehmer gewesen, hätte man hinter mir die Autobahn gesperrt, damit ich in aller Ruhe überholen kann. Doch ich fürchte, das gibt die Gesetzeslage nicht her. Die müsste überhaupt viel besser auf meine Bedürfnisse zugeschnitten sein: kostenlose Badeentchen, alle Wege nur bergab und draußen nicht nur Kännchen. Aber ich zähle ja offenbar nicht.