Nach den Corona-Jahren habe ich fast vergessen, wie es sich anfühlt, in den beim Auftritt der Vorband noch lockeren Reihen einen geeigneten Standort für vier Personen auszuchecken: das Basislager, von dem aus zwischen Vor- und Hauptact noch mal eine losgeschickt wird, um die letzten Biere vor Konzertbeginn zu holen.
Doch jedes Mal, wenn ich denke, „hier ist es gut“, blicke ich hinter mir in etwa anderthalb Metern Höhe in ein empörtes oder klägliches Gesicht. Daraufhin grinse ich zerknirscht und gehe weiter, weil ich denke, dass ich das doch echt nicht bringen kann. Hier ist es eben nicht gut. Die sehen doch gar nix hinter mir. Wie habe ich das früher denn gemacht: einfach nicht drüber nachgedacht? Ich fürchte. Anscheinend habe ich in der Pandemie goldene Antennen der Empathie ausgebildet.
Obendrein scheinen sich die Menschen jüngst auch noch verkleinert zu haben. Gibt’s das? Hunderttausend Jahre lang wurden die Menschen immer größer, und nun auf einmal dieser Backlash. Vielleicht hat es evolutionäre Vorteile, da eine geringere Körpergröße den Aerosolen weniger Angriffsfläche bietet. Davor waren bei Konzerten doch viel mehr Typen meiner und nicht selten sogar noch krasseren Größe? Ich fiel gar nicht auf.
Nun aber habe ich auf Schritt und Tritt so ein Godzilla-Feeling. Denn wohin ich auch trample, habe ich ein störendes Gefühl. Will heißen, ich habe das Gefühl, ich störe. Vor allem natürlich die Frauen. Ich würde mich gern kleinmachen, obwohl dann ja ich nichts mehr sähe. Aber dafür könnte ich wenigstens über die Schlechtigkeit der anderen Menschen und ihre unverschämte Größe jaulen. Alles besser als dieses entsetzliche Schuldgefühl.
Mit der autoaggressiven Scham der Konzertgroßen verhält es sich wie bei allen anderen Trägern unverdienter Privilegien auch: Die einen haben diese Scham, die anderen nicht; doch für die Benachteiligten ändert sich nichts, solange sich an der Situation selbst nichts ändert. Meine Betroffenheit entpuppt sich als wohlfeile Attitüde, die gesellschaftlich rein gar nichts bringt. Denn meinte ich es wirklich ernst, wäre ich ja wohl zuhause geblieben, oder würde mich auf den Boden setzen, was aber auch wieder rücksichtslos wäre, weil dann jede über mich drüberstolperte.
Ein konsequentes Fanal wäre es hingegen, sägte ich mir die Beine hier vor aller Augen knapp unter Kniehöhe ab. Aber dazu fehlt mir deutlich das Format: „Das tut doch weh, dann kann ich doch nicht mehr laufen, mimimi.“ Ach Gottchen, jetzt weint er, der salonlinke Gutmensch, da anstelle leerer Phrasen auf einmal Handlungen gefragt sind. Und so drücke ich mich am Ende einmal mehr vor meiner Verantwortung, und stelle mich einfach irgendwohin. Seht, liebe Kinder, die Antennen des Edelmanns sind wohl doch nur aus eitel Exkrement gemacht.
Nicht nur verlogen bin ich, sondern auch feige, denn nun surft auf dem schlechten Gewissen die Furcht. Ich erwarte, dass mir jeden Moment jemand entnervt von hinten eine überzieht. Verbrechen und Strafe – im Grunde wäre das nur fair. Also ich würde es an ihrer Stelle wahrscheinlich tun. Gender Pay Gap, Cybermobbing, Schlangen vor dem Klo, K.o.-Tropfen in der Limo und zu schlechter Letzt noch nach Schweiß stinkende Riesen vor der Nase, die einem beim arhythmischen Wippen auf die Eins und auf die Drei mit ihren Hacken die Zehen zermalmen. Irgendwann ist das Fass dann auch mal voll. Reine Notwehr.
Doch das einzige, was passiert, ist, dass sich hinter mir diese altbekannte, sich trichterförmig verjüngende Sichtschneise bildet. Man hält Abstand. Ich bin allein, ich riesengroßes Schwein.