19. Januar 2017.
Der Anruf kommt spät, aber er kommt. Was bleibt ihnen auch anderes übrig? Am Telefon fragt mich eine müde klingende Dame, die mit der Organisation des Beiprogramms zu Donald Trumps Inauguration betraut sein will, ob ich dort eine meiner Geschichten lesen könne. Auch auf deutsch, kein Problem, es gehe schließlich um die Geste. Donald würde sich wahnsinnig freuen und ich sei von Anfang sein Wunschkandidat gewesen. „Hanneman or no man“, habe Trump klargemacht, die Feier entweder mit mir oder ganz ohne künstlerischen Beitrag zu begehen. Doch bis eben habe man vergeblich versucht, mich zu erreichen.
Ich glaube, die Frau lügt. Ich war die ganze Zeit zuhause und habe wie immer auf das Läuten des Telefons oder der Türklingel gewartet. Da war nichts, ebenfalls wie immer. Natürlich haben sie sich zuerst bei Madonna und Co. gemeldet. Darüber bin ich auch nicht böse, das ist doch ganz normal. Einmal googeln genügt, um zu wissen, dass ich auf der Liste der künstlerischen Prominenz zurzeit Platz 1.547.032.725 belege, was in etwa dem Rang von Claus Weselsky, dem Vorsitzenden der Lokomotivführergewerkschaft, in der Thronfolge des britischen Königshauses entspricht. Trotzdem wusste ich, dass mit jedem Tag und jeder weiteren Absage immer unbedeutenderer Stars meine Aktie steigen würde.
Ich brauchte nur zu warten. Denn keiner will dahin. Kein Künstler, der etwas auf sich, und auch keiner, der nichts auf sich hält. Es spielt keine Rolle, wer in oder wer out, noch nicht mal, wer rechts oder wer links ist; die Blöße, vor der ganzen Welt als Trumps Nebenlachnummer dazustehen, will sich noch nicht mal der schlimmste Comedian geben. Als nach dem schielenden Einballjongleur und dem Origami-Typen auch noch Bob Geldof absagte, fragte das verzweifelte Organisationskomitee erst alle Kinder mit Zauberkasten und ganz am Ende bei Lesebühnen an.
Lesebühnen sind, um das eher berlintypische Format hier kurz in den Worten des Feuilletons zu erläutern, Veranstaltungen, bei denen die Vortragenden im Unterschied zum bekannteren Poetry Slam zu schlicht sind, ernste Themen zu verhandeln, zu dumm, ohne Pointen zu arbeiten, zu faul, ihre Texte auswendig zu lernen, und zu feige, sich einem Wettbewerb zu stellen. Es machen auch weniger Frauen mit, woran natürlich nie die Frauen schuld sind, die nicht mitmachen.
Von diesen traurigen Gestalten musste ja früher oder später eine anbeißen. Zweihundert Dollar Gage, der Flug mit Ryan Air (Umsteigen auf den Azoren), Unterkunft in einem Motel im lebhaften Washingtoner Viertel „Crack Terraces“ sowie drei Getränkemarken für den Erfrischungsstand: Das ist ein Angebot, das ein Lesebühnenautor nicht ausschlagen kann – diesbezüglich zeigen sich die Amerikaner bestens informiert. Da sage noch einer, die NSA sei zu nichts nutze.
Doch selbst in diesem Lineup der Elenden musste ich mich zunächst hintanstellen. Das merkte ich an der Rundmail von Micha Ebeling mit der Nachfrage um den 15. Januar herum, wer denn dieser Trump sei und ob da schon mal jemand von uns vorgelesen hätte. Alle waren sich daraufhin einig, dass das gar nicht ginge, sogar diejenigen, die schon mal in dem Autohaus in Marzahn oder bei Dieter Nuhr aufgetreten waren. Denn auch meine Kollegen kennen Schmerzgrenzen.
Ich aber nicht. Die Nebenlachnummer ist meine. Für Geld mache ich alles. List, Gewalt, Betrug, Schmeichelei – mir ist jedes Mittel recht, von ehrlicher Arbeit allenfalls abgesehen. Als Judas hätte ich Jesus noch die Latschen geklaut, bevor ich ihn verraten hätte. Seine Mutter hätte ich zum Betteln geschickt und den Heiligen Geist an Tontaubenschützen vermietet. Meine grenzenlose Korrumpierbarkeit verschafft mir nun einen uneinholbaren Vorteil. Denn ich bin offenbar tatsächlich der einzige Künstler auf der ganzen Welt, der bereit ist, an der Farce des Scheusals teilzunehmen.
Gleich, nachdem ich aufgelegt habe, packe ich den kleinen Rucksack – mehr als Handgepäck müsste ich selber bezahlen – und mache mich auf den Weg nach Schönefeld. Die Zeit ist verdammt knapp. Die müssen wirklich bis zuletzt gehofft haben, dass sie noch irgendeinen Feuerschlucker finden, der sich komplett das Hirn weggebrannt hat. Nun habe ich das Gerenne zur U-Bahn, zum Bus, zur Gangway.
Im Flieger schlafe ich hervorragend. Morgen dürfte es mich noch nicht mal jucken, wenn die gesammelten Top Ten der gängigen Vorlesealpträume wahr würden: 1. Keiner kommt. 2. Ich finde meine Texte nicht. 3. Ich weiß nicht, wo ich hin muss. 4. Irgendwas komisches ist mit dem Raum. 5. Ich kann mich nicht bewegen. 6. Ich kann nicht mehr sprechen. 7. Ich kann die Schrift nicht lesen. 8. Das Publikum ignoriert mich einfach. 9. Ich habe vergessen, eine Hose anzuziehen. 10. Mein Text ist vollkommen sinnlos.
All das wird in Washington keine Rolle spielen. Ich brauche nicht nervös zu sein. Die wenigen, die kommen werden, werden nichts von dem verstehen, was ich mache, und es wird ihnen auch egal sein. Herrlich. Das ist ja fast wie bei „Rakete 2000“.
27. Januar 2017
Ich bin endlich wieder zuhause. Die Überfahrt musste ich in der Kombüse eines Containerschiffs abarbeiten, weil ich das Ticket für den Rückflug nicht bekommen habe. Mein Geld ebenfalls nicht. Und Bücher hat auch keiner gekauft.
Dabei war ich richtig gut. Ich habe aus „Neulich in Neukölln“ gelesen, die Geschichte mit dem Glaser, wie immer, wenn ich vor Leuten mit überschaubarem Kapee und Humor lese. Trotzdem kam hinterher dieselbe Orga-Tante, die mich angerufen hatte, auf mich zu und sagte: „Sorry, this was not …“, und den Rest hab ich nicht verstanden, war alles irgendwie auf Englisch. Eigentlich war nur Melania cool. Sie hat mir ihr unverwechselbares Lächeln geschenkt und noch heimlich einen Müsliriegel zugesteckt, ohne den ich es wohl kaum bis zum Hafen in Baltimore geschafft hätte.
Nachträglich von der Festgage zurückzutreten und die eigenen Versäumnisse komplett auf den Künstler zu schieben, ist echt das allerletzte – das kennt man normalerweise nur von selbstverwalteten Kulturzentren in Schwaben. Die meinten wohl, es wäre meine Schuld, dass so wenige Zuschauer gekommen sind. Nur was kann ich denn dafür, wenn der Laden keine Werbung macht? Also das Weiße Haus in diesem Fall. Das sagen wir den Veranstaltern immer wieder. Am schlimmsten ist es an Unis (Aachen!), wo irgendwelche vollverpeilten Kiffer Asta-Gelder für Kulturveranstaltungen verbrennen, zu denen gar keiner kommen KANN, weil die Idioten sich nicht mal in der Lage sehen, auch nur nen Post-it-Zettel an die Tür zu hängen. Aber Inaugurationen sind offenbar nicht besser.